Wie trifft man Ludovic Tézier?

Wie trifft man Ludovic Tézier?

Wie trifft man Ludovic Tézier? 846 605

Auch ohne durchgeknallte und verbrecherische Potentaten, ob sie nun in Russland, China, Korea oder sonst wo sitzen, macht man sich als alte Schachtel so seine Gedanken über den Tod. Wenn der sechzigste Geburtstag nun schon reichlich lange hinter einem liegt, scheint es mir nicht morbid, sondern realistisch, über das Ende des Lebens nachzudenken – wohlgemerkt: nachzudenken, nicht nachzugrübeln (siehe vorletzten Beitrag)! Dabei kommen einem dann auch allerlei Maximen in den Sinn, die es zu einer gewissen Prominenz gebracht haben – carpe diem und so. Ein anderer der wahrscheinlich gutgemeinten Ratschläge ist der, jeden Tag so zu leben, als sei es der letzte.

Also wenn das kein Blödsinn ist! Bei realistischer Betrachtung meiner persönlichen Prädispositionen und Vorlieben muss ich davon ausgehen, dass ich den letzten Tag meines Lebens in größter Faulheit verbringen würde. Wozu sich noch groß aufmandeln, wenn es eh der letzte Tag ist? Wäre ein eklatanter Fall von vergeblicher Liebesmüh – und ich hasse Verschwendung von Ressourcen. Aber von jetzt an bis zum tatsächlich letzten Tag nur noch faul zu sein, fände ich genauso doof, selbst wenn vieles von dem, was man so unternimmt, ebenfalls in die Kategorie „vergebliche Liebesmüh“ einzuordnen ist. Ab und zu mal ein bisschen Faulheit muss sein, aber nur noch? Nein, jeden Tag so zu leben, als sei es der letzte, das taugt in meinen Augen als Restlebensentwurf gar nichts. Sie wollen noch ein Beispiel? Et voilá:

Neulich habe ich von einer Frau gehört, die irgendein vermutlich esoterisch angehauchtes Seminar mitgemacht hat, bei dem eine Aufgabe der Teilnehmer darin bestand, nun einen Tag so zu leben, als sei es ihr letzter. Zu ihrer eigenen Überraschung suchte sie ein Café oder eine Konditorei auf, und aß eine große Menge Sahnetorte, Kuchen, Petits fours und so weiter. Sie machte an ihrem vermeintlich letzten Tag also etwas, das sie offenbar sonst nicht tat, aber wohl irgendein vor ihr selbst geheim gehaltenes Bedürfnis stillte. Man stelle sich einmal vor, sie hätte das noch dreißig Jahre lang täglich so weitergetrieben! Abgesehen von den voraussichtlichen gesundheitlichen Problemen, die sie bald davongetragen hätte, und die ihr Leben vermutlich betrüblich verkürzt hätten, hätte sie in keinen Sarg mehr reingepasst. Und ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass die ihr verbliebenen Jahre dadurch zufriedener, weiser, ausgeglichener und glücklicher geworden wären.

Also, „jeden Tag“ so zu leben, als sei es der letzte, das können wir abhaken – aber ich würde mich auf „gelegentlich“ runterhandeln lassen…

Ein anderer, gut gemeinter und oft gegebener Ratschlag ist, sich zu überlegen, worauf man auf dem Totenbett gern zurückblicken würde. Was hätte man gern erlebt, erreicht, unternommen, als man es noch konnte? Also, was ich gern erlebt haben würde – da wüsste ich schon was. Aber wie trifft man Ludovic Tézier? Scheint aussichtslos! Und selbst wenn man es täte, man könnte ja doch nicht mit ihm singen – er würde schreiend davonlaufen. Auch keine erstrebenswerte letzte Erinnerung!

Was ist wichtig am Ende des Lebens?

Ein weiterer beliebter und bekannter Ansatz ist, die Liste unvollendeter Dinge abzuarbeiten. Besonders in Büchern und Filmen, in denen sich tatsächlich oder vermeintlich Todgeweihte auf den Weg in letzte Abenteuer machen, wird das Thema gern behandelt. Aber wenn man das tatsächlich ins Auge fasst (sofern man die Mittel dazu besitzt, was ja auch ein erheblicher Gesichtspunkt ist), sollte man sich das sehr konkret ausmalen, denke ich. Schließlich muss sich die Anstrengung lohnen. Wofür bin ich bereit, meine Bequemlichkeit zu opfern? (Sie merken schon, das mit der Faulheit ist echt ein Thema in meinem Leben – ich nehme an, ich bin der erste Mensch, der auf dem Totenbett denkt „Ach hätte ich doch mehr gearbeitet!“) Doch zurück zum springenden Punkt: Was ist mir wirklich wichtig?

Ich weiß, das ist eine uralte Frage, die ich da gestellt habe, aber für mich ist es kein kalter Kaffee, weil meine Auseinandersetzung damit nicht abgeschlossen ist. Das Wünschen und Wollen hat noch nicht aufgehört. Selbst wenn man zufrieden ist, mit dem was man hat, wünscht man sich zum Beispiel doch, dass man es behalten möge und blickt nicht gelassen der Möglichkeit ins Auge, alles an Besitz, der einem nicht nur gehört, sondern der „zu einem gehört“, den man doch irgendwie als Teil der Persönlichkeit empfindet, könnte einem genommen werden – zum Beispiel, weil ein größenwahnsinniger Verbrecher es tut, einfach weil er es kann. 

Auch wenn der Krieg in der Ukraine, jeder Krieg, jede Katastrophe, beweisen, wie schnell es gehen kann, dass aller Besitz eine Illusion ist, wer kann von sich behaupten, das große Ziel der Zen-Buddhisten, an nichts anzuhaften, auch nur annähernd erreicht zu haben? 

Wie würde ich damit umgehen, wenn von einer Stunde auf die andere mein Haus und alles, was ich besitze, meine Möbel, meine Kleider, meine Bücher, meine Bilder, all der Schnickschnack, an dem ich so hänge, durch Bomben oder Naturgewalt zerstört würde? Wie würde ich das verkraften? Würde ich Jahre später auf dem Totenbett denken „Gottseidank bin ich damals mit dem Leben davongekommen?“ Ich lasse jetzt mal ausdrücklich den Gedanken an die Familie außen vor. Natürlich wäre man immer dankbar, dass die Liebsten und Nächsten am Leben und gesund geblieben sind. Das braucht gar keine Erörterung. 

Worüber ich nachdenke, ist, was es mit mir, meiner Lebensfreude, meinem Lebenswillen machen würde, wenn Obdach und alle Äußerlichkeiten weg wären, das gewohnte Leben buchstäblich in Trümmern liegt. Ich fürchte, ich wäre sehr verzweifelt. Die Erkenntnis missfällt mir, aber sie steigert meine Bewunderung für die Menschen, die das gerade alles durchmachen – zum Teil sicherlich aufrecht gehalten vom sprichwörtlichen „Mut der Verzweiflung“ –  ins Himmelhohe. 

Und letzten Endes, wie wollte man das im Moment vergessen, ist es keineswegs selbstverständlich, dass es überhaupt ein Totenbett gibt, auf dem man sich Gedanken machen kann – für viel zu viele kommt es gerade anders. In diesem Sinne, ceterum censeo!

Bild von b0red auf Pixabay
2 Kommentare
  • Ja, meine liebste Renate, jetzt ist ja schon Ende Mai, die alten Schachteln brauchen wieder Futter!!!

    • Liebe Luitgard, es freut mich sehr, dass ein neuer Beitrag vermisst wird! Vielen lieben Dank dafür! Es tut mir sehr leid – aber, wie eine meiner Enkelinnen vor ein paar Jahren noch gesagt hätte, es gang einfach nicht schneller. Mein technical Support hat mir jedoch versichert, dass heute oder morgen mit einem neuen Beitrag zu rechnen ist. Also bitte ich um ein klitzekleines bisschen Geduld.