Mit Würde und Anstand

Mit Würde und Anstand

Mit Würde und Anstand 846 605

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – und der größte Zaubertrick dabei ist, dass man danach irgendwie weitermacht. Kennt jeder, oder? Wenn man sich erst mal dazu aufgerafft hat anzufangen, dann zieht man das Programm auch durch – morgens Yoga, zum Beispiel. Man hat gefühlte dreihundertzwanzigtausend Mal die Erfahrung gemacht, wie gut einem das tut – trotzdem denkt man jeden Morgen „Och nee, heute nich!“ Aber man weiß, es hilft ja nichts, Altern mit Arthrose macht auch keinen Spaß. Und man weiß ja auch, dass man sich nur diesen klitzekleinen Anfangs-Schubser geben muss – der Rest kommt dann schon. Meistens jedenfalls, es gibt Ausnahmen, was soll man machen… Sie ahnen wahrscheinlich bereits, worauf ich hinauswill: Die Ursprungsidee bestand darin, einfach mal anzufangen, auch ohne Plan. Nächste Woche komme ich nämlich nicht zum Schreiben, da sind die Enkelkinder zu Besuch und bis übernächste Woche warten, finde ich ein bisschen zu lange. Außerdem kann ich schließlich nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass mir dann eine wirklich zündende Idee kommt für jenen ersten Satz, der Ihnen auf immer und ewig im Gedächtnis bleiben wird. Da nimmt man halt Anleihen bei berühmteren Kollegen.

Beim Nachdenken darüber, womit ich Sie unterhalten könnte, kam mir in den Sinn, dass ich natürlich immer einen meiner „Helden“ rauskramen und eine kleine Lektion in Geschichte fabrizieren könnte. Aber ich will das auch nicht überreißen, nicht jede alte Schachtel hat solch ein Faible für Historisches wie ich, deswegen hebe ich mir August Bebel und Joseph Belli für absolute Dürrezeiten in meinem Hirn auf. Ach, sagen Sie bloß, Sie kennen Joseph Belli nicht? Die Konstanzer kennen wenigstens den Belli-Weg, aber wahrscheinlich werden wohl auch von denen nur die wenigsten wissen, wer dahintersteckt: Ein früher Sozialdemokrat, der hier in Konstanz, zum Teil über die sogenannte Schmugglerbucht im Bodensee, dafür gesorgt hat, dass die 1878 nach Bismarcks Sozialistengesetzen verbotene Zeitung der Sozialdemokraten doch ihren Weg nach ganz Deutschland fand. „Der Sozialdemokrat“ wurde Ende September 1879 erstmals in Zürich gedruckt und von der Geheimorganisation „Rote Feldpost“ erst nach Meersburg, dann nach Konstanz geschmuggelt und von dort aus ins übrige Land verteilt. Diese Schmuggelaktionen wurden jahrelang erfolgreich durchgeführt, später nicht mehr über den Meersburger Umweg, sondern direkt von der Schweizer Seite auf die deutsche. Joseph Belli hat seine Lebensgeschichte und seine teils gefährlichen, teils auch recht komischen Erlebnisse bei der „Roten Feldpost“ in einem Buch veröffentlicht. Er war ein sehr mutiger, sehr verschmitzter und sehr anständiger Mann. Anständig zu sein, das wurde ihm sogar von der damaligen Obrigkeit, die gar nichts für Sozialdemokraten übrig hatte, bestätigt.

Anstand – ist Ihnen eigentlich dieser wahnsinnig altmodische Begriff in letzter Zeit mal begegnet? Einer meiner ältesten und liebsten Freunde attestierte mir neulich beim Telefonieren, dass ich mich dadurch auszeichne, wenn ich das jetzt unter uns mal so nennen darf, dass ich Vokabeln benutze, die praktisch gänzlich aus dem Repertoire des Alltagsgebrauchs verschwunden sind. Dazu zählt „Anstand“ ja wohl auch. Nicht nur, dass man das zum Begriff gehörende Verhalten seit Jahren schmerzlich vermisst, das Wort selbst spielt auch keine Rolle mehr. Vielleicht gibt es ja auch einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden eines Wortes und seinem ihm zugehörigen Inhalt. „Jetzt benimm dich mal anständig!“ Haben Sie das als Kind auch noch gehört? Aber sagen junge Mütter und Väter das heute noch zu ihren Kindern? Mir scheint, das Konzept „sich anständig verhalten“ ist reichlich aus der Mode gekommen. 

Ich frage es nur ungern, aber zählen womöglich wir Alt-Achtundsechziger zu den Totengräbern dieses Konzeptes? Dieses „anständige Verhalten“, das unsere Eltern einforderten, das erschien uns damals so hohl, so verlogen, so heuchlerisch, es hatte nichts zu tun, mit dem, was wir als ehrlich, aufrichtig, richtig empfanden. Manieren, das war was für Spießer! Heute vermissen wir sie, die Umgangsformen, die das Leben freundlicher machen. 

Formen ohne Inhalt taugen allerdings auch nichts. Denken Sie doch bloß mal an diese Karikatur bürgerlichen Auftretens, diese Stilikone für zurückgebliebene Jungwähler der CDU! Hatte man bei Philip Amthor nicht permanent den Eindruck, dass er sich um den Heiligenschein-Award der konservativen Bürgerschaft bewirbt? Jetzt steht er bloß noch als Scheinheiliger da. Dem fehlte definitiv eine Großmama, die ihn ernsthaft ermahnte: „Philiplein, benimm dich anständig, wenn du in den Bundestag kommst!“ Aber da das Wort, wie wir schon bedauert haben, aus dem Sprachgebrauch verschwunden ist, hätte er wohl eh nichts damit anfangen können.

Tja, wir Alt-Achtundsechziger, wir haben unsere Fehler gemacht, machen wir uns nichts vor. Auf der anderen Seite – dieser absolut rücksichtslose Egoismus, der vielerorts zu beobachten ist, den müssen wir uns nicht anlasten, der ist nicht auf unserem Mist gewachsen. Die Überhöhung des „Ich“, „Ich“, „Ich“, das wurde uns eingeredet von Leuten, die genau wussten, wieviel Geld sich damit verdienen lässt, wenn man jedem suggeriert, dass er und nur er allein zählt. Ich erinnere mich noch genau daran, dass selbst so biedere Unternehmen wie die Postbank vor Jahren mit Unsinn warben nach dem Strickmuster „Unvergleichlichoder „Unentgeltlich“ und was es sonst noch an Zusammensetzungen mit „Ich“ gibt. Ziemlich dämlich, keine Ahnung, ob irgendjemand darauf reinfiel, aber es zeigt doch symptomatisch, welche Werte in einer Gesellschaft promotet (jaha, ich kann auch neudeutsch!) werden, wenn ein großes Unternehmen sich davon einen Erfolg verspricht. 

„Wir“ kommt nur noch in herzzerreißenden Appellen vor, oder in den trügerischen, auch kriminellen Vorspiegelungen von fremdenfeindlichen Populisten, eher weniger in der Realität. Der Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität Berlin, Andreas Reckwitz, sagte in einem Interview dazu folgendes: „Moderne Gesellschaften sind keine Gemeinschaften mehr. Vormoderne Gesellschaften waren Gemeinschaften. … Moderne Gesellschaften sind anders organisiert. Sie leben von der Differenz, also von der Unterschiedlichkeit.  … Die gesamte moderne Gesellschaft kann nicht zu einer Gemeinschaft werden.“ Es gäbe höchstens communities kleinerer Gruppen. Er sagt weiter, Populisten wie etwa Viktor Orban in Ungarn suggerierten, dass man auch in der Gegenwart so etwas wie eine homogene Gemeinschaft wieder aufbauen könnte, welche dann die Nation trage. Dahinter liege jedoch ein Homogenitätsideal, eine Gleichförmigkeit, die in der Moderne nicht mehr zu haben sei.

Die wollen wir doch auch gar nicht zurück, oder? Das wollen doch höchstens noch die grenzdebilen Neonazis. Heißt das nun, dass wir uns zwangsläufig an ein Hauen und Stechen, wie wir es in den Hassmails im Internet, oder, noch schlimmer, immer wieder auch auf der Straße erleben, als neue Umgangsformen gewöhnen müssen? Herr Reckwitz hat einen Trost für uns bereit: „Dass die Gesellschaft keine homogene Gesellschaft mehr ist, bedeutet jedenfalls nicht, dass so etwas wie Gemeinsinn in der Moderne nicht möglich oder nötig wäre, im Gegenteil. Eine Gesellschaft, auch wenn sie noch so differenziert und individualisiert ist, kommt offensichtlich nicht ohne ein Mindestmaß an sozialer Integration aus, das heißt, an zivilen Normen, die alle teilen.“ Wir lernen, „Anstand“ heißt in der Sprache der Soziologie „soziale Integration“. Auch recht, Raider heißt jetzt Twix, sonst ändert sich nix, wir machen kein Gedöns um Begriffe! Hauptsache, ihr benehmt euch anständig, Kinder!

Aber „Hauen und Stechen“ findet ja auch in anderer Hinsicht statt – es ist eigentlich nur eine andere Bezeichnung für „Leistungsgesellschaft“, die die bei uns ehemals vorhandene „Soziale Marktwirtschaft“ abgelöst hat. Bei Herrn Reckwitz heißt das Wettbewerbsstaat und dazu hat er auch etwas Interessantes zu sagen: „Es gibt Alternativen zum Wettbewerbsstaat. Einleuchtend ist das Modell eines Infrastrukturstaates, der die Qualität grundlegender öffentlicher Güter – wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Verkehr – sicherstellt.“  Ja, bitte! Wenn möglich bald! Und weiter im Hinblick auf Pandemien, Terror und Klimawandel: „So könnte auch das Modell eines resilienten Staates Zulauf bekommen, der für verschiedene Gefährdungen Vorsorge trifft und präventiv versucht, dass diese gar nicht erst eintreten. Bleibt der Staat weiterhin passiv und reagiert nicht auf die genannten Herausforderungen, besteht die Gefahr, dass ein anderes Modell von Staatlichkeit attraktiver wird: nämlich der autoritäre Staat – in Osteuropa und Ostasien ist dies schon erkennbar.“

Jetzt habe ich meinen Beitrag, von dem ich überhaupt nicht wusste, wohin er mich führen würde, doch einigermaßen mit Anstand zu Ende gebracht, oder? Bleibt mir nur noch zu erwähnen, dass das Interview, auf das ich Bezug nehme, am 29. Juni in der SZ erschienen ist und Sie zu fragen, was Sie über das alles denken. Anstand, Gemeinschaft, Gemeinsinn, was haben Sie dazu erlebt, was wünschen Sie sich? Was können wir tun?

Bild von truthseeker08 auf Pixabay