Krisen sind Auslöser für Veränderungen und als alte Schachtel ist man auf Veränderungen vielleicht nicht unbedingt mehr so scharf wie in Jugendjahren, aber man kann durchaus die Hoffnung hegen, dass Dinge und Zustände, die man seit Jahren oder Jahrzehnten beklagt, nun möglicherweise doch tatsächlich besser werden. Ich sage nur „Tönnies“ und jeder wird wissen, was ich meine. „Never let a good crisis go waste“, dieses Zitat von Churchill konnte man in den letzten Wochen öfter in der Zeitung lesen – keine Sorge, sonst würde ich es auch nicht kennen. Die Krise als Chance nutzen – nee, so tief sinke ich nicht, dass ich das jetzt allen Ernstes hinschreibe, aber wir wissen alle, dass es bei uns so einiges gibt, dem man eine Chance von ganzem Herzen wünscht: Zum Beispiel, dem Willen zum Nachdenken über unsere Konsumgewohnheiten oder überhaupt dem Mut zum eigenen Nachdenken. Selber denken statt dem Willen zur Dummheit zu frönen, das sollten wir doch mal ernsthaft diskutieren!
Viel häufiger diskutiert als man das sonst gewohnt war, wurde in den vergangenen Wochen zum Beispiel auch der „Wert des Lebens“ – alte Menschen haben da plötzlich verbal eine Aufwertung erfahren, von der sie im realen Leben ja überhaupt keine Ahnung hatten. Echt gut, dass das mal zur Sprache gekommen ist. Wenn man so abgeschoben im Alten-„Pflege“-Heim sitzt, von unterbezahlten und überlasteten „Pflege“-Kräften ruhiggestellt wird und freudlos dahinvegetiert, kann man schließlich noch nicht mal ansatzweise auf die Idee kommen, wie wertvoll man der Gesellschaft ist!
Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht so schrecklich viel vom „Wert“ des Lebens: Mein Leben und das meiner Nächsten und Liebsten ist mir viel wert – aber gibt es für uns Menschen (im Sinne von Menschheit) so etwas wie allgemeine Wertschätzung „des Lebens“? Danach gefragt, würde ich mich selbstverständlich, so wie die allermeisten von uns, sofort dazu bekennen. Klar, Wert des Lebens, allererste Priorität, Mann! Es führt allerdings kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Als Allgemeinheit verhalten wir uns dazu absolut konträr. Wir scheinen den Wert unseres Lebens ziemlich leichtfertig zu behandeln, denn für Konsum und für das, was man uns beigebracht hat als „Wohlleben“ zu betrachten, setzen wir gerade ziemlich viel aufs Spiel. Können wir womöglich nicht anders? Wer weiß – „Uneinigkeit und absolute Entzweiung machen das Wesen des Menschen aus.“ (Und um Sie zu beruhigen, auch dieses Zitat von Hegel kenne ich nur aus zweiter Hand. Etwas von Hegel selbst zu lesen ist mir niemals gelungen, ich habe es als „linker“ Teenager zwar versucht, musste aber erkennen, dass mein Hirn dafür nicht gemacht ist, es verknotete sich dermaßen, dass nur der zuverlässig einsetzende Tiefschlaf es wieder entknoten konnte.)
Uneinigkeit und absolute Entzweiung machen also unser Wesen aus, in unserem Umgang mit uns selbst und im Umgang mit anderen. Wir postulieren mit Begeisterung den Wert des Lebens und behandeln es schäbig. Wir wollen „haben“ und nicht verzichten. Ist das der Sinn des Lebens? Haben, haben, haben? Nein, sicher nicht, ich denke, da sind wir alten Schachteln uns einig. Aber jetzt steh ich wie der Ochs vorm Scheunentor schon wieder am nächsten Hindernis. „Der Sinn des Lebens“ oh là là, darf’s für fünf Pfennig weniger sein?
Ich komme Ihnen sogleich mit dem nächsten Zitat aus zweiter Hand, diesmal von Kant, der in seiner Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ schreibt, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens zu jenen gehöre, mit denen die menschliche Vernunft sich selbst belästige, die die sie nicht abweisen könne und die doch ohne Antwort bleiben müssten.
Es gibt also keine allgemein gültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens – wer eine für sich gefunden hat, hat sie „für sich“ und zwar ausschließlich für sich gefunden. Leider haben religiöse Fanatiker das noch nie kapiert, weshalb sie, um Andersdenkende von den unschätzbaren Segnungen ihres Glaubens zu überzeugen, nicht zögern, diesen das Leben zu nehmen, im Namen des gütigen Gottes, geheiligt werde sein Name. Politische Fanatiker sind selbstverständlich auch nicht besser. Radikalität besitzt ihren Charme, aber selten für die, die nicht mitmachen wollen.
Aber belästigen wir unsere Vernunft noch ein bisschen: Also zurück zum Sinn des Lebens, von dem man nicht weiß, ob es ihn gibt oder nicht, und ob man ihn braucht oder nicht. Aber ob man ihn nun „braucht“ oder nicht – es ist schön, wenn man ihn hat, die Erfahrung hat wahrscheinlich jeder schon gemacht. Das Gefühl, ein sinnvolles Leben zu führen, trägt ganz erheblich zum Wohlgefühl bei. Man braucht vielleicht nicht unbedingt DEN SINN DES LEBENS in Großbuchstaben, aber Sinn im Leben. Für sich selbst Sinn im Leben gefunden zu haben, oder sich ihn gegeben zu haben, das verleiht Kraft. Es trägt über viele Schwierigkeiten hinweg. Es gibt Bedeutung, wo sonst „Sinn“-Losigkeit herrscht. Dem eigenen Leben Sinn zu verleihen, das gelingt für gewöhnlich, wenn man sich etwas widmet, dem man Wert beimisst.
Das hilft uns nun aber echt nicht aus der Bredouille heraus! Wenn wir zum Beispiel voraussetzen, dass Jeff Bezos dem Versuch, Amazon zum weltbeherrschenden Unternehmen zu machen und seinen ohnehin schon unverantwortlichen Reichtum ins noch Monströsere zu steigern, einen großen Wert beimisst – was sein gesamtes Verhalten nahelegt – dann können wir schlussfolgern, dass er ein sinnvolles Leben führt. Aber wer von uns wollte dem frohgemut zustimmen? Das kann kein „sinnvolles Leben“ sein, das unseren Ansprüchen an diesen ehrwürdigen Begriff genügt. Nee, nee, nee, da fehlt die Ethik.
Wo führt dieser Beitrag denn noch hin? Das mit dem „Wert beimessen“ hat uns nun unaufhaltsam in die Arme der Moral getrieben. Diese Arme können einen ganz schön in den Würgegriff nehmen. Also, halten wir fest, Ethik gehört auch dazu, wenn Sinn im Leben uns beglücken soll. Wert hat nur Wert, wenn er moralisch gerechtfertigt ist. Also zum Beispiel, wenn er Leben schützt und erhält, worin wir, so global gesehen, nicht besonders gut sind, wie zu Beginn schon traurig vermerkt wurde.
Aber selbst, wenn man das Globale außen vor lässt, wird es langsam richtig kompliziert, Wert, Sinn, Moral, Ethik, welche Katze beißt sich denn da in den Schwanz? Nun sind wir in Teufels Küche! Helfen Sie mir weiter! Wie kommen wir aus dieser Sinn-Krise raus? Wie denken Sie darüber? Was macht in Ihrem Leben Sinn?
Erst mal danke für diese tolle „Schreibe“! Es ist für mich immer wieder ein Genuss und zugleich eine Bereicherung als alte Schachtel Ihre( in Gedanken Deine) Gedanken zu lesen.
Mein Sinn des Lebens: stimmt, hat was mit meinen Werten zu tun( humanistisch) und für mich auch damit diesen Sinn in Beziehung zu leben. Zu mir, meinen Lieben und auch neuen, fremden Menschen mit Ermessen ich weiß und kann zu begegnen. Mehr Sein als haben, mehr teilen, mit-teilen, als Ausbeuten…
Und mich dabei ,auch als alte Schachtel, immer wieder in neuen Situationen und Begegnungen, auch herausfordernden, zu erleben. Stabilität durch finanzielle Sicherheit( nicht Reichtum) und mich tragende Beziehungen gepaart mit Flexibilität , Bereitschaft zu Neuem. Denken, Fühlen und Handeln immer wieder neu zu entdecken… ein so spannender Sinn des Lebens für mich alte Schachtel.
Herzlichst
Isabel