Jetzt auch noch das!

Jetzt auch noch das!

Jetzt auch noch das! 846 605

Ich habe seit einiger Zeit mit einer Alterserscheinung zu kämpfen, die mich zunehmend irritiert. Falten? Vergessen Sie’s! Dass Namen und Begriffe sich vor meinem Zugriff verstecken? Geschenkt! Meine Alterserscheinung ist viel peinlicher. Ich denke jedenfalls, dass es eine Alterserscheinung ist, früher hatte ich das nicht – höchstens bei Opern, wenn bei herzzerreißender Musik minutenlang gestorben wurde. Ein Film konnte noch so sehr auf die Tränendrüse drücken, ich blieb entspannt. Aber wenn ein Sänger unter Abliefern einer Arie seinen letzten Atemzug aushauchte, dann liefen mir die Tränen, sehr zum Amüsement meines Mannes, der leider Opern-taub ist. 

Wussten Sie, dass Opern-Taubheit ein ernstzunehmendes Leiden ist?

Doch, doch, das stimmt! Deshalb zwinge ich ihn, nur in seinem ureigensten Interesse, mindestens einmal im Jahr (wenn es mir gelingt auch öfter) auszuprobieren, ob sich die Symptomatik nicht inzwischen gelindert hat, oder doch wenigstens durch Übung hintanhalten lässt. Er ist die Krone aller Ehemänner, das sei hier nur mal erwähnt. Er gibt manchmal sogar zu, dass ihn eine Aufführung beeindruckt hat! Und um mir eine Freude zu machen, kommt er immer wieder mit. Ich weiß nicht, ob ich die Größe besäße, ihn zu einem Rap-Konzert zu begleiten. Nun ist Rap-Unverträglichkeit ja auch eine ganz schlimme Sache… sie führt bei Betroffenen zu Hautausschlägen, Magen-, Gallen-, Leber- und Nieren-Koliken, sowie Verlust der allgemeinen Zurechnungsfähigkeit, die nur mit strenger Bettruhe und einer Diät aus schottischem Single-Malt kuriert werden kann. 

Aber lassen wir die Abschweifung – die übrigens nicht zu meinen Alterserscheinungen zählt, ich konnte schon als junge Frau keinem interessanten Umweg widerstehen. Ursprünglich wollte ich von der Rührung sprechen, die mich seit einiger Zeit bei den dämlichsten Gelegenheiten überkommt. 

Ich hasse es! 

Neulich zum Beispiel will ich erzählen von den furchtbaren Schwierigkeiten, die das Leben des Malers Giovanni Segantini für ihn bereithielt, die ärmlichste Kindheit, die Vernachlässigung, der Hunger, das unglaubliche Talent, trotzdem die ewigen Geldsorgen, und just in dem Moment, als der Erfolg endlich eintritt, das tragische Ende in einer verschneiten Berghütte: Weil man nicht schnell genug zu einem Arzt konnte, der Tod durch Blinddarmentzündung. Ich erzähle also – und plötzlich versagt mir die Stimme, weil meine Rührung sich Bahn bricht und ein Weinen fast meinen Hals abschnürt. Also nur fast, ich kann mich zum Glück noch beherrschen, aber ich denke, es entgeht niemandem, dass ich mich irgendwie komisch anhöre, dieser kleine Schluchzer in der Stimme ist wahrnehmbar.

Jetzt kann man einwenden, dass das Leben und das Ende Segantinis einen ja zu Recht zu Tränen rühren kann, aber leider ereilt mich das Phänomen auch bei ganz anderen Gelegenheiten. Ich spreche über etwas, das nun wirklich keiner Rührung bedarf, ein sportlicher Erfolg, ein politisches Ereignis, irgendeine Begebenheit, das Detail einer Biografie – und plötzlich merke ich, wie meine Stimme zittrig wird, weil mich rührt, was da passiert ist, weil mich die Größe einer Leistung, der Mut eines Menschen, die Tragik eines Geschicks emotional so be“rührt“. 

Dass das so ist, finde ich durchaus in Ordnung, aber dass ich es nicht kontrollieren kann, das nervt mich!

Ich finde es peinlich! Und ehrlich gesagt, verstehe ich es auch nicht so ganz. Warum kommen mir plötzlich die Tränen, wenn ich von etwas ergriffen bin? Früher war ich auch empfänglich für Ergreifendes, aber es hat sich nicht so körperlich manifestiert. Warum jetzt? Es muss das Alter sein!

Du lieber Gott, damit konnte man ja nicht rechnen, als man sich ausgemalt hat, was das Alter mit einem machen würde. Graue Haare, Falten, Steifheit in den Gelenken, Rückenschmerzen, Bequemlichkeit, die Jugend von heute unmöglich finden, Blasenschwäche, Inkontinenz meinetwegen … aber Rührung? Schluchz – so ein Mist!

Photo by Jon Tyson on Unsplash
Ein Kommentar
  • Birgit Berkemeier Januar 15, 2020 um 4:47 pm

    Als ich die „altenschachteln“ neulich meinen Freundinnen zur Lektüre empfahl, wurde die Frage aufgeworfen, was denn überhaupt eine „alte Schachtel“ sei. Wir waren zu viert im Alter von 66 bis 78 Jahren. Die älteste von uns behauptete steif und fest, dass nur sie dieser Kategorie angehöre.

    Ab wann bin ich eine „alte Schachtel“, was ist das Pendant zu einer alten Schachtel? Ist es ein abwertender Begriff? Schachteln werden gefaltet, was im Folgeschluß heißen könnte, mit den ersten Falten beginnt schon das Schachteldasein – was bei mir schon als spätes Kind der Fall war. Ich höre noch meine Mutter sagen „Kind, zieh die Stirn nicht kraus, sonst bekommst du dort dicke Falten“. Sie hat recht behalten. Aber alt war ich damals nun wirklich noch nicht, also wohl eher eine junge Schachtel.
    Wir sind so jung, wie wir uns fühlen heißt es rundum. Ich persönlich kenne wenige Menschen, die angeben, sich so alt (an manchen Tagen auch älter) zu fühlen wie sie sind. Was bedeutet das? Wenn ich mich mit 60 wie mit 50 fühle, ein Gefühl also, dass ich mit 50 schon kennen gelernt habe, würde dies bedeuten, dass sich mein Altersgefühl nicht verändert hat. Voraussetzung ist, ich habe mit mit 50 auch wie 50 gefühlt. Habe ich mich allerdings mit 50 eher wie mit 40 gefühlt bzw. mit 40 wie mit 30, mit 30 wie mit 20, mit 20 wie mit 10 (was für die meisten in diesem Alter allerdings keinesfalls erstrebenswert ist!) usw. – dann merken wir am Ende der Rechnung, dass hier irgendetwas nicht stimmen kann. Das das „sich jünger fühlen“ wahrscheinlich erst ab einem bestimmten Zeitpunkt einsetzt. Ich behaupte, ab dem Zeitpunkt, ab dem es persönlich wichtig wird, noch nicht zu den Alten gerechnet zu werden. Also genau der Zeitpunkt, an dem wir „eigentlich“ zu den alten Schachteln gehören, dies uns aber nicht zugestehen wollen.

    Also, meine Damen, schwimmen Sie mutig gegen den Strom, werfen Sie alle Selbsttäuschung freudig über Bord und schauen fröhlich auf die Dinge, die uns das Alter eröffnet: Sitzplatz in Bus und Bahn, Rente (in Sicht) und Kinder aus dem Haus, Hilfsbedürftigkeit vortäuschen zur Erledigung unangenehmer Verrichtungen des Lebens durch Jüngere, sich gebrechlich in der langen Warteschlange nach vorne drängeln, konditionsarme junge Stubenhocker locker und geschmeidig überholen, Senorinnenrabatte usw. usf. Dafür lohnt es sich doch, die ganzen vielen Jahre hinter sich gebracht zu haben!