Hör auf zu beben, bereite dich zu leben

Hör auf zu beben, bereite dich zu leben

Hör auf zu beben, bereite dich zu leben 1371 463

Der heizungsgedrosselte „Winter unseres Missvergnügens“ wurde zumindest bei uns im Südwesten abgelöst von einem Frühling, der zwar heißersehnt war, aber das, was man sich von ihm gewünscht hatte, ach du liebe Zeit! Das ließ schwer zu wünschen übrig! Angesichts der eiskalten Sophie gab es nur einen Weg und der führte einen schnurstracks in die warme Sauna. Andererseits, was will man meckern? Die Natur ist dankbar für das viele Wasser, der See ist wieder so voll, wie sich das gehört und heiß wird es uns vermutlich noch früh genug. Geht eh alles viel zu schnell. 

Womit wir elegant beim unerschöpflichen Thema Kinder, wie die Zeit vergeht, und damit also beim Lebensalter wären. Aus dem Frühling desselben bin ich ja nun raus. Aber ich fühle mich gerade in einer merkwürdigen Phase, die ich geneigt bin „Pubertät des Alters“ zu nennen. Alte Schachteln und Pubertät, das passt natürlich gar nicht zusammen. Da ist schon eher Würde angesagt, wenn man sich nicht lächerlich machen will. Ich habe allerdings auch nicht vor, mich Kicherattacken hinzugeben oder in zerrissenen Jeans rumzulaufen. Doch ich fühle mich manchmal so mitten dazwischen, wie es Teenagern passiert, die noch nicht ganz herausgefunden haben, ob sie nun Noch-Kinder oder doch Schon-Erwachsene sind. 

Ich weiß dank grauer Haare haargenau, dass ich nicht mehr jung bin, danke für den Hinweis, aber was dann? „Großmama, bist du alt?“ hat mich meine fünfjährige Enkelin kürzlich gefragt und ich habe klipp und klar „Ja“ gesagt. Ehrlicherweise hätte ich mit einem entschiedenen „Jein, keine Ahnung, möglicherweise, wahrscheinlich nicht, oder vielleicht doch irgendwie?“ antworten müssen. Deswegen die Alterspubertät. Ich bin weder das eine noch das andere noch beides. Ich bin Schrödingers Katze in Personalunion mit der Heisenbergschen Unschärferelation. Lassen Sie sich von diesen Angeber-Fachausdrücken jetzt bloß nicht verleiten zu glauben, ich verstünde was von Mathematik.

Gegen Mathematik hegte ich schon in Zeiten der ersten Pubertät ein tiefes Misstrauen. Ihre Adepten waren mir unheimlich, fiese Finsterlinge, die völlig unverständliches Zeug in die unschuldigen Gehirne von Jugendlichen implementieren wollten, die sich viel mehr für das Einmaleins der Sexualität interessierten als für sonstige Rechenoperationen. Und diese Abgesandten des Teufels bezeichneten die Zeitverschwendung namens Algebra und Geometrie auch noch, das ist wirklich die Höhe, als „exakte Wissenschaft“. Exakte Wissenschaft, dass ich nicht lache! Was bitte soll an einer Wissenschaft exakt sein, die allen Ernstes behauptet „Minus mal Minus ergibt Plus“?! 

Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass das Unfug ist. Genauso wenig wie Minus im Geldbeutel mal Minus auf dem Bankkonto Elon Musk gibt, gibt Donald Trump mal Mark Zuckerberg Demokratie, Putin mal Xi Jinping gibt nicht Nelson Mandela, und Friedrich Merz mal Markus Söder gibt keinen gescheiten Kanzlerkandidaten. Okay, den Einwand, dass „gescheit“ und „Bundeskanzler“ in Zusammenhang mit Parteien, die sich christlich nennen, möglicherweise zwei Worte sind, die im Moment ebenso wenig zusammengehen wie Mathematik und Schönheit, lasse ich gelten. Aber sei’s drum, der Punkt war ja, darzulegen, dass, wenn man ein Übel mit einem zweiten multipliziert, nimmermehr etwas Positives rauskommen kann. 

Meine grauen Haare mit der vergangenen Lebenszeit zu multiplizieren, lassen wir also freundlicherweise sein. Dabei kommt nichts raus, was ich wissen möchte. Aber Jahre, was sag ich, Jahrzehnte, die hinter mir liegen, zusammenzählen, das schafft auch mein mathematisch unterbemittelter Geist – so viel rechnen kann ich nämlich schon. Und die Diskrepanz zwischen der exakten Summe meiner gehabten Lenze und meinem Lebensgefühl, die nenne ich, mangels besserer Alternative, Alterspubertät, dieses Oszillieren zwischen Bohei und Au weh. Das geht vermutlich fast allen alten Knochen so, jedenfalls kann man immer wieder lesen, dass laut Umfragen die meisten alten Menschen sich jünger fühlen als sie den Jahren nach sind. Ich siebzig? Niemals! Andererseits hörte ich mich in letzter Zeit Sachen sagen, die sinngemäß auf folgendes hinauslaufen: „Es ist alles so schrecklich und beängstigend und entwickelt sich zum Schlechteren – ich bin froh, dass ich schon so alt bin, und das nicht mehr lange mitmachen muss“ Wie oft habe ich schon gesagt und gedacht „Ich beneide meine Enkelkinder nicht!“ Und quasi händeringend in die Zukunft geschaut – von der Gegenwart gar nicht zu reden.

Aber damit gehe ich mir gerade selber ordentlich auf den Wecker. Ich will nicht zur Zunft der „Früher war alles besser!“- Jammerer gehören! Es gibt nämlich fast nichts, das einen so alt aussehen lässt. Und eitel bin ich schon, graue Haare hin oder her. Da kam mir das Zitat, das ich als Überschrift gewählt habe, gerade zur rechten Zeit: „Hör auf zu beben, bereite dich zu leben!“ Das ist aus Mahlers Auferstehungs-Symphonie, und als ich das hörte, dachte ich „Genau, das isses! – Will ich etwa meine voraussichtlich letzten Lebensjahre, (falls ich nicht doch unsterblich bin, was sich ja erst noch herausstellen muss), mit Beben verbringen?“ Klar belasten mich die Krisen, wie alle anderen Menschen auch. Ich will mir auch nichts schönreden. Und ich weiß, dass Altern oft/immer/selten/nie (Unzutreffendes bitte streichen) mit ganz unangenehmen Nebenwirkungen behaftet sein kann. 

Aber will ich jetzt nur noch beben? Nöö, leben will ich eigentlich schon noch. Leben, dazu gehören zwingend Zuversicht und Mut, nicht Verzagtheit, für die bin ich doch definitiv noch nicht alt genug. Und im Übrigen halte ich mich an den Ausspruch eines über Achtzigjährigen, den ich vor vielen Jahren mal gehört habe, leider weiß ich nicht mehr, wer das war. Er sagte: „Vor vielen Jahren wurde mir prophezeit, dass ich jung sterben werde. Heute weiß ich, dass diese Prophezeiung zutrifft.“ Na also – es lebe die Pubertät, diese Zeit der aufregenden Entdeckungen und ungeahnten Entwicklungen – im Alter nur Gottseidank ohne den lästigen Tumult der Hormone. Hat doch alles sein Gutes!

Bild von Elke from Pixabay
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