Die momentanen Zeiten sind ohne Zweifel präzedenzlos, selbst für eine alte Schachtel wie mich. Für mich persönlich sehen die Lebensumstände gerade nicht so wahnsinnig viel anders aus als sowieso – Home-Office mache ich seit zwanzig Jahren – aber um einen herum passiert doch einiges und was man aus der Zeitung erfährt…Na, schweigen wir darüber, das wissen Sie selber. Abgesehen davon, dass der Gatte und ich auf den Osterurlaub mit Kindern und Enkelkindern verzichten müssen, was uns wirklich traurig macht, sind die Einschränkungen, denen wir uns beugen müssen, bis jetzt, toitoito, nicht gerade gravierend. Mir sind aber bei dieser Gelegenheit ein paar Bücher eingefallen, die über Zeiten und Ereignisse berichten, die geeignet sind, den Stoßseufzer: „Uns geht es ja echt noch Gold!“ hervorzubringen.
Ich bin immer außerordentlich dankbar für das, was ich alles nicht bewältigen muss.
Die Menschen in diesen Büchern hatten ganz außerordentliche Schicksale und mussten mit Situationen fertig werden, von denen ich mir nicht vorstellen kann, wie ich sie hätte überleben sollen. Ich stelle Ihnen hier nun also vier Bücher vor, die ich irgendwann im Laufe der letzten dreißig Jahre gelesen habe und die einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen haben.
Vera Figner „Nacht über Russland“
Vera Figner wurde 1852 in Russland in recht komfortable Verhältnisse hineingeboren. Als junge Frau studierte sie in Zürich Medizin, wo sie sich auch mit sozialistischen und utilitaristischen Theorien und mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigte. Nachdem sie nach Russland zurückgekehrt war, über nahm sie die Leitung eines ländlichen Krankenhauses und entwickelte sich mehr und mehr zur Revolutionärin. Sie beteiligte sich an einem Attentat auf den Zaren Alexander II, (auch die Schilderung der Vorbereitung dieses Attentats ist abenteuerlich), wurde verhaftet und 1884 zunächst zum Tod verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch umgewandelt in eine lebenslängliche Haftstrafe. Sie verbrachte deshalb zwanzig Jahre ihres Lebens in Einzelhaft auf der Festung Schlüsselburg bei St. Petersburg.
In ihrem Buch „Nacht über Russland“ schildert sie ganz besonders diese Zeit – zumindest ist das in meiner Erinnerung so. Ich habe das Buch in meinen Regalen leider nicht mehr gefunden, deshalb kann ich nicht nachschauen. Aber seit ich das Buch vor mehr als dreißig Jahren gelesen habe, ist mir in Erinnerung geblieben, wie sie diese absolute Isolation geschildert hat, in einer eiskalten Festung, mit unzureichender Nahrung, allein in einem Maß, wie man sich das kaum vorstellen kann. Die ersten paar Jahre habe sie immerzu gefroren, so schrieb sie – kann man sich die Ungeheuerlichkeit allein dieses banalen Satzes ausmalen? Zu essen bekam sie manchmal nur verschimmeltes Brot und der Kontakt zu anderen Gefangenen war verboten. Sie lebte in einer solchen Stille, dass sie, als ihre Haft nach zwanzig endlosen Jahren umgewandelt wurde in eine Verbannung nach Archangelsk und sie ein weiteres Jahr später zu ihrer Schwester ziehen durfte, keinen Lärm ertrug und bei jedem etwas lauteren Geräusch zusammenschreckte.
Wie kann man an solchen Umständen nicht zerbrechen? Nachdem sie 1906 endgültig wieder frei war, nahm sie ihre politische Arbeit wieder auf, lebte eine Zeit lang in Genf und Paris, wo sie ein Komitee gründete, um politische Gefangene in Russland zu unterstützen, kehrte aber am Beginn des ersten Weltkriegs nach Russland zurück und leitete ein Komitee, um befreiten Sträflingen und Verbannten zu helfen. Bis zu ihrem Tod 1942 war sie politisch aktiv. Welch eine innere Kraft und Seelenstärke!
Das nächste Buch, das für mich unvergesslich ist, bleibt etwa in derselben Zeit, hat auch die Russische Revolution zum Thema, doch stammt es von einem Ukrainer.
A.S. Makarenko „Ein pädagogisches Poem“
Für mich ist das eines der wunderbarsten Bücher, die je geschrieben wurden. Makarenko, geboren 1888, der aus sehr armen Verhältnissen stammte, war zunächst Lehrer für Elementarschulen, studierte aber später noch Pädagogik und wurde Schulleiter. 1920 erhielt er den ideellen Auftrag der Revolution an die Pädagogik „den neuen Menschen auf neue Weise zu schaffen“. Wie er das anstellen sollte, wusste er allerdings auch nicht. Was er jedoch wusste, das war, dass die zahllosen, durch Krieg und Revolution zu Waisen gewordenen Kinder und Jugendlichen, die in teils kriminellen Banden durchs Land zogen und sich irgendwie durchzuschlagen versuchten, dringend Hilfe brauchten. Er begann also damit, diese armen Teufel einzusammeln und in „Kolonien“ zu resozialisieren.
Im „Pädagogischen Poem“ schildert er, was das damals hieß. Sie hatten buchstäblich nichts! Essen war notdürftig, Kleider waren Lumpen, Schuhe Luxus – barfuß im Schnee war keine Seltenheit. Und unter diesen Schwierigkeiten sollte er aus verwahrlosten Jugendlichen ordentliche Sowjetbürger machen, wobei er oft genug auch noch gegen bornierte Parteikader anzukämpfen hatte. Wie er das machte und was er dabei alles erlebte, das ist so unglaublich spannend und eindrücklich beschrieben, so voller Herzenswärme, Klugheit, Humor und Optimismus trotz aller Widrigkeiten, ich kann es nur jedem ans Herz legen!
Was mich als „Nachgeborene“ und mit dem heutigen Wissen über Sowjetrussland Versehene dabei zusätzlich beeindruckt hat, das ist der Idealismus, der damals vorherrschte, die ungeheure Hoffnung, die sich mit dieser Revolution verband, wie glühend man am „neuen Menschen“ und an einer neuen Gesellschaft arbeiten wollte, an die Ziele der Revolution glaubte. Zu wissen, dass das alles für die Katz war, wie so ganz anders sich das entwickelt hat, machte mich beim Lesen fassungslos. Makarenko starb 1939, wie durch ein Wunder unbehelligt durch die Stalinistischen Säuberungen.
Ich komme in der Zeit jetzt ein bisschen weiter vorwärts und in der Geografie ziemlich viel weiter westlich, zunächst nach Frankreich, dann leider Gottes, nach Deutschland, dann glücklicherweise zurück nach Frankreich. Ich spreche von
Jacques Lusseyran „Das wiedergefundene Licht“
Dieses Buch sollte in meinen Augen Pflichtlektüre in sämtlichen Schulen sein – da würden etliche Jugendliche vielleicht doch davor bewahrt, in die Fänge der Neo-Nazis zu geraten. Jacques Lusseyran wurde 1924 in Paris geboren, wo er eine sehr behütete, glückliche Kindheit erlebte. Das Glück bekam einen ersten Riss, als er mit acht Jahren einen Unfall erlitt, der ihn blind machte. Dank seiner eigenen inneren Stärke und der Unterstützung durch kluge, wundervolle Eltern schaffte er es, seine Blindheit zu akzeptieren und eine unglaubliche Wahrnehmungsfähigkeit zu entwickeln. Er fand sein eigenes „inneres Licht“, er erspürte seine Umgebung, er entdeckte die Welt der Stimmen, er konnte die Menschen dahinter wie in einem Buch lesen. Er war außerordentlich klug, setzte durch, dass er in ganze normale Schulen gehen und schließlich studieren konnte. Und er schildert eine Jugend voller Lebensfreude.
Als Paris von den Nazis besetzt wurde, dauerte es nicht lange, bis er sich der Résistance anschloss und mit gerade mal siebzehn Jahren als Blinder eine eigene Widerstandsgruppe gründete. Ein Verräter lieferte ihn der Gestapo aus und nach einem halben Jahr Einzelhaft in Frankreich wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Dort überlebte er als einer der wenigen (wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, waren es vier oder fünf!) der etwa zweitausend Franzosen, die gemeinsam mit ihm dorthin verschleppt worden waren, bis das Lager am 11. April 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Wie er die Zeit im KZ schildert, das gehört zum Ergreifendsten, was ich jemals gelesen habe, selbst jetzt noch kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke. Ich kann nicht wiedergeben, was Jacques Lusseyran alles erlebt hat, wenn es Sie interessiert, müssen Sie es selbst lesen. Es lohnt sich, das kann ich von ganzem Herzen versichern.
In seinem späteren Leben winkte ihm doch noch das Glück, bis er leider viel zu früh 1971 durch einen Autounfall ums Leben kam.
Das letzte Buch, das ich vorstellen möchte, ist von einer englischen Autorin, doch geht es ebenfalls zu einem großen Teil um das Paris in der Zeit der deutschen Besatzung.
Sarah Bakewell „Das Café der Existenzialisten“
Die Geschichte der Entstehung des Existenzialismus so farbig und so spannend darzustellen, das ist ganz große Schreibkunst. Es ist Philosophie-Geschichte, die sich auch mit dem nationalsozialistischen Denken Heideggers auseinandersetzt, weil Sartre sich stark damit beschäftigte, als er seine eigene Philosophie entwickelte. Es ist aber auch die Geschichte all der aufregenden Menschen, die damals Paris bevölkerten, von Sartre und Beauvoir, Camus, Viand, Merleau-Ponty und vielen anderen, die damals lebten, liebten, unermüdlich arbeiteten, unzählige Seiten vollschrieben und trotzdem die Zeit fanden, Nächte hindurch zu tanzen, zu trinken, zu diskutieren. Welche Entbehrungen sie zu ertragen hatten, mit welchen Gefahren sie konfrontiert waren, wie sie das alles überlebt haben, und dabei auch noch Geistesgeschichte geschrieben haben, das kann man sich heute doch kaum noch vorstellen.
All diese Menschen haben so viel überstanden, da werden wir doch dieses Virus – und auch das, was die Regierung da gerade als (in meinen Augen zweifelhaftes, aber das ist nur eine Meinung!) Heilmittel unternimmt, überstehen. Ich hoffe jedenfalls, dass unsere Demokratie es übersteht.