Um für mehr „Enthinderung“ zu sorgen, werde ich peu à peu alle Bilder, die die bisherigen Blog-Beiträge begleiten, mit einer kurzen Erläuterung versehen, damit auch blinde Menschen, denen der Computer Texte vorliest, einen Zugang zu diesen Bildern bekommen. Auf die gute Idee, das zu machen, bin ich leider nicht allein gekommen, man hat mich darauf aufmerksam gemacht. Dabei habe ich mich vor Jahren eine ganze Zeit lang ziemlich ausführlich mit Blindheit auseinandergesetzt.
Wenn ich an Blinde und Blindsein denke, fällt mir zwangsläufig Karla ein, mit der ich vor etlichen Jahren einen längeren und intensiven Kontakt hatte. Ich habe über und mit Karla gemeinsam ein Buch geschrieben, das schildert, mit welcher Kraft und welchem Mut eine äußerlich unscheinbare Frau ihr ungewöhnliches und schwieriges Leben bewältigt und welche inneren Ressourcen sie dabei einsetzt. Karla hatte sich trotz ihrer Blindheit ein relativ selbstbestimmtes Leben erkämpft, sich nach zwanzig Jahren als Nonne von ihrem Orden „geschieden“, ihren Lebensunterhalt als Telefonistin verdient, allein und selbständig in ihrer heißgeliebten kleinen Wohnung gelebt, und bei aller Liebe zum Leben und zu ihren Mitmenschen immer wieder schmerzlich und zornig empfunden, wie abhängig sie ist. Um mit dieser Abhängigkeit „abzurechnen“, hat sie ihr einen Brief geschrieben, den sie mir damals zur Verfügung gestellt hat. Der ist mir nun wieder in den Sinn gekommen und ich will ihn Ihnen nicht vorenthalten, er ist aufschlussreich, denke ich, auch für uns Sehende, die wir gerade so sehr mit dem Thema „Einschränkungen“ konfrontiert sind.
Hey Sie!
Ich habe vor, Ihnen einen Brief zu schreiben! Heute!
Nein, Du mag ich zu Ihnen nicht sagen. Und „Sehr geehrte Abhängigkeit“ ist auch nicht ehrlich; denn ich ehre Sie nämlich nicht!
Abhängigkeit: Dieses Wort! Seit ich es kenne ein Reizwort für mich! Das Reizwort meines Lebens!
Als kleines Kind schon ist es mir begegnet, ohne dass ich es kannte. Im Alltag! In ganz kleinen Dingen! Wenn ich etwas wollte, zum Beispiel bestimmte Farben gemeinsam tragen, kam von Seiten meiner Eltern ein Nein! Und sie hatten auch immer einen Grund für das Nein. Wenn sie nicht wollten, dass ich etwas tat, was mir Spaß gemacht hätte, dann kam wieder dieses Nein. Und wehe, wenn ich dieses Nein nicht respektierte! „Das geht allen Kindern so! Und für alle Kinder sind diese Nein oft hart!“ hieß es dann. Gut, dass ich Neins früh akzeptieren lernte; denn so wurde ich zu einem angepassten, pflegeleichten Menschen erzogen, Gott sei Dank! Denn ohne diese Pflegeleichtheit könnte ich dieses, mein Leben, überhaupt nicht leben und meistern!
Je älter ich wurde, desto mehr fragte ich nach dem Warum für das Nein. Die Gründe, die mir erläutert wurden, verstand ich oft nicht. Und wenn es gar keine Erklärung mehr gab, wurde gesagt: „Du siehst es halt nicht. Darum leuchtet es Dir nicht ein. Aber glaube uns, wir haben recht!“
Nicht nur die Eltern brachten mich so zum Gehorchen, auch andere Mitmenschen. Und je mehr jemand über mich bestimmte, desto mehr lehnte ich mich dagegen auf. Abhängigkeit!!!!! Wenn ich das nur schon realisierte!!!! Immer wieder schlug ich mir an dieser Grenze den Kopf an! In meiner Umgebung gab es niemanden (meinem Gefühl nach), der oder die so abhängig war (ist) wie ich.
Abhängigkeit! Sie zieht an meinen Nerven – je älter ich werde, desto unerträglicher!
Ich kann ihr sooo häufig nicht entrinnen, und das macht mich fuchsteufelswild!
Am meisten spüre ich die verhasste Abhängigkeit, das vermaledeites Biest, wenn mir eine zweite ebenso verhasste, vermaledeite Eigenschaft begegnet, meine schlechte Orientierung!
So gern ich möchte, ist es mir oft einfach nicht möglich, selbständig von A nach B zu kommen. Warum das so ist, werde ich wohl nie verstehen, geschweige denn akzeptieren!
Je älter ich werde, desto besser gelingt es mir, mein Leben selber zu bestimmen. Das freut mich, spornt an, treibt an.
Aber dann, plötzlich und unerwartet, sind es wieder die Sehenden, die etwas sehen, das ich nicht sehe und deshalb, sehr gut gemeint, über mich bestimmen! Sie nennen das: „Ich will Dir ja helfen!“ aber sie überstülpen mir das, was sie für richtig finden! Ohne, dass ich beurteilen kann, und das ist das Problem, ob auch ich es für mich richtig finde. Sie nennen es helfen, meinen es auch so – aber die Grenze zwischen Bevormundung und Hilfe ist eine ganz schwierige Gratwanderung.
Da ich einen Sinn einfach nicht habe, den die Sehenden haben (den ich ihnen auch gönnen mag), fühle ich mich ihnen immer wieder unterlegen, fühle ich mich von ihnen immer wieder bestimmt. Es gibt Menschen, die umsorgen von Herzen gern jemanden. Ich fühle mich von diesen Menschen oft bestimmt, bevormundet, sie lassen mir keine Luft und keinen Freiraum. Ich wurde oft in meiner Freiheit eingeengt. Auf dieses Muster reagiere ich je länger je allergischer und habe den Dreh noch nicht raus, damit umzugehen.
Sehende empfinde ich als viel unabhängiger als mich
Unabhängigkeit: Das Wort für unbegrenzte Möglichkeiten! Unabhängigkeit, das ist das Zauberwort, alles selber bestimmen und entscheiden zu können. So möchte ich sein! So werde ich nie sein! Und dagegen lehne ich mich immer wieder auf, je älter ich werde, desto schmerzlicher.
Sehende sagen mir zwar: Auch wir sind abhängig! Sie fühlen sich wohl manchmal abhängiger, als sie es in Wirklichkeit sind. Ihre Gedanken lauten oft: Was denken wohl die Anderen, wenn ich das jetzt tue oder jenes unterlasse? Diese Abhängigkeit scheint in unserer Gesellschaft stärker vorhanden, als ich annehme. Für mich eine unverständliche Unterwerfung! Ich bin wohl hart und ungerecht in diesem Punkt, und vielleicht kann ich mein Einfühlungsvermögen den Sehenden gegenüber hier auch noch schulen und sie besser verstehen.
Ich schweife ab, wohl um den Schmerz der eigenen Abhängigkeit weniger zu spüren.
Wenn ich irgendwo stehe und wieder einmal, zum x-ten Mal immer auf der gleichen Strecke, nicht weiterkomme, weil ich zum wieviel hundertsten Mal nicht weiß, wo ich gerade bin! Wenn ich dann warten muss, bis mir jemand weiterhilft, dann könnte ich „lut use täubele“ (laut herausschimpfen). Aber das tut man nicht! Ich lächle, frage freundlich um Hilfe – und bekomme sie auch. Freundlich und gern gegeben. Super! Die Klippe ist überwunden! Und ich wandere mit meinem Stock bewaffnet weiter durch die Gegend bis zum nächsten Knackpunkt, deren es bei mir leider immer wieder gibt, obwohl ich die Strecke schon zigmal gemacht habe. Wenn dann dazu mein Weg noch mit Baustellen bestückt ist, na, dann prost!
Baustellen haben die unangenehme Eigenschaft, sich mehrmals am Tag zu verändern, wie das Chamäleon. Anpassungsfähigkeit ist ein Plus – wenn man es kann. Aber das immer wieder Anders-Sein der Baustellen und ihrer Umgebung macht mich rasend, wütend, hilflos, begrenzt! Noch schlimmer sind Fahrzeuge, die plötzlich da sind und erst noch rückwärtsfahren, ohne es anzukündigen. Und die „innig geliebten“ Tafeln auf Kopfhöhe, ohne fühlbaren Fuß darunter, den mir der Stock anzeigen könnte! Diese verfl… Beulenproduzentinnen, die aus was weiß ich für einem unerfindlichen Grund mir, ohne etwas zu sagen, einfach im Weg stehen. Oder all die lärmenden, knatternden Maschinen, deren wirklichen Aufenthaltsort ich beim besten Willen nicht orten kann – ich habe keine Ahnung, ob und in welcher Richtung sie sich bewegen, ob sie von mir weg oder auf mich zu lärmen! So ein SCHSCH…
Dazu gibt es auch noch die stillstehenden vierrädrigen Vehikel, Lieferungswagen, Personenautos, deren Inhalt gerade ein- oder ausgeladen wird. Schwups – da kommt mein Stock an ihre blecherne Umhüllung: Und dann gilt es, darum herum tasten mit dem Stock und gleichzeitig darauf achten, dass ich die Richtung nicht verliere. Sonst lande ich nämlich statt im Büro wieder bei mir daheim!
Und all die einmündenden Straßen, mit Bauabschrankungen verziert, so dass ich nie genau weiß, ob ich jetzt wirklich dem richtigen Straßenstrang nachlaufe. Uff! Und das jeden Morgen neu – wenn ich, wie viele andere auch, gern einfach vor mich hinträumend ins Büro spazieren würde.
Am Mittag und am Abend kommen dann noch Gartentische und die dazugehörigen Stühle und abgestellte Velos und Kleiderständer und, und, und dazu, um die ich alle herumkurven muss. Und dann sitzen da Touristen, die gerade an der frischen Luft eine Tasse Kaffee genießen und dieses zweibeinige Zootier, als das ich mich gerade fühle, mal ein bisschen beäugen und ihm dann noch freundlich lächelnd einen Tipp geben: „Schauen Sie! Am besten gehen Sie da dem mittleren Straßengraben entlang. Dann kommen Sie immer schön geradeaus!“
Oh, geradeaus! Das ist ungefähr das Schwierigste, was man gehen kann. Niemand geht automatisch geradeaus, wenn dieser jemand es nicht sieht. Und ich sehe es, so gern ich würde, wirklich einfach nicht. Und ich bin auch diesen Touristen und allen freundlichen Mitmenschen überhaupt nicht gram! Aber mir bin ich einfach wieder einmal total überdrüssig, die ich schräg durch die Gegend „wackle“ mit meinem Stock und aussehe, wie, ja, wie eigentlich? Salopp würde ich sagen, wie ein Depp, wie ein Idiot! Ich möchte keinen Menschen so bezeichnen! Aber in diesen Momenten fühle ich mich so und wünsche mir nichts sehnlicher als ein Mauseloch oder noch besser einen Helikopter oder Hexenbesen, der mich auf Knopfdruck und problemlos einfach durch die Gegend trägt, und zwar bitte sehr raschmöglichst, unauffälligst und blitzschnell dorthin, wo ich jetzt gerade hinmöchte, am liebsten mit dem Kopf durch die Wand!
Mit dem Kopf durch die Wand dieser verfluchten Grenze, dieser Blindheit, die mich in meinem Alltag so behindert und einfach manchmal raaaasend macht!
Ich beneide alle Menschen, die eine gute Orientierung haben. Ich beneide alle Menschen, die einfach in die Garage gehen, ihr Auto aufschließen und damit abfahren können: genauso schnell, genau dann, wann und wohin sie wollen. Vorausgesetzt, sie werden nicht gerade durch einen Stau aufgehalten, was es ja auch gibt! Und Autofahren erfordert eine Riesenkonzentration, wie ich mir lebhaft vorstellen kann, seit ich mal auf einem Flugplatz habe ausprobieren dürfen, selber Auto zu fahren, natürlich mit einem Fahrlehrer neben mir, der sofort eingreifen konnte, wenn es Not tat!
In meinen Wutmomenten über meine vermaledeite Abhängigkeit, sehe ich das Leben der Sehenden viel zu rosig.
Aber trotzdem! Wie gern wäre ich einfach „normal“, frei, unabhängig, auf Niemand angewiesen. Ich bin es nie! Kann es nie sein! Und habe den Dreh noch nicht gefunden, mich nicht dagegen aufzulehnen.
Meinen zweibeinigen, oft unbekannten Schutzengeln und Schutzengelinnen bin ich sehr dankbar. Dankbar bin ich auch über meine Fähigkeit, spontan auf andere Menschen zugehen zu können, ihnen zuzuhören und mit ihnen und durch sie viel Schönes zu erleben. Aber meine Abhängigkeit auf so vielen Gebieten!
Wie gern würde ich Sie, Abhängigkeit, einfach aus meinem Leben streichen! Und sagen: „Leben Sie wohl, aber beehren Sie mich nie wieder!“
Da bemerkt man wieder, dass viele Coronamäßig auf sehr hohem Niveau jammern.