Nachdem es in meinem letzten Beitrag um die Einschränkungen ging, die blinde Menschen tagtäglich in Kauf nehmen müssen, biete ich dieses Mal sozusagen das Kontrast-Programm. Ich möchte heute eine Frau in den Mittelpunkt stellen, die einen ganz besonderen Blick auf Menschen und auf Dinge hat. Der besondere Blick auf Menschen und der besondere Blick auf Dinge hängen bei ihr in ganz erstaunlicher Weise zusammen, wie, das klärt sich im Laufe des Beitrags. Darf ich vorstellen, die Sozialarbeiterin und Fotografin:
Christa Bernadette Schweizer
Für ihre Freunde ist sie einfach Christa, doch als Künstlerin wählte sie für sich den Künstlernamen „Christa B.“ Sie hat mir auch erklärt, warum. Den zweiten Namen Bernadette verdankt sie ihrer Großmutter und jene Bernadette, um die es geht, war die Heilige von Lourdes, zu der Menschen mit Augenbeschwerden hin pilgerten. Auch Bernadette war also in gewisser Weise für den präzisen Blick, für das genaue Hinsehen (können) zuständig.
Christa ist in einem kleinen Dorf zwischen Freiburg und Kaiserstuhl aufgewachsen, auf einem ganz traditionellen Bauernhof, wo man sich selbst mit allem Lebensnotwenigen versorgt hat. Ihre Eltern waren keineswegs begeistert, dass das Mädchen auf das Gymnasium wollte. Doch ihre Lehrerin überredete die Eltern, dem begabten Kind Bildung zu ermöglichen, also durfte sie Abitur machen. Sie wusste bereits ab dem ersten Zeitpunkt, an dem sie sich überhaupt Gedanken über spätere Berufswahl machte, dass sie Sozialarbeiterin werden wollte.
Nach ihrem Sozialpädagogik-Studium arbeitete sie zunächst in einer selbstverwalteten Kindertagesstätte, wo ihr zwar die Arbeit mit den Kindern sehr viel Freude machte, womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war, wie schwierig die Arbeit mit den Eltern, insbesondere im Kontext von Selbstverwaltung und hohen politischen Idealen sein würde. Sie entschied sich deshalb, eine Auszeit in Form einer Schreiner-Lehre zu nehmen. (Sollten Lehrerinnen und Kita-Erzieherinnen unter den Lesern sein – sie wissen wahrscheinlich genau, was Christa meint…) Dahinter stand der Gedanke, vielleicht eine Art Arbeitstherapie zu ihrem Schwerpunkt zu machen. Denn Christa kam sehr gut besonders mit den eher schwierigen Kindern klar, oder wie sie selbst sagt: „Ich fand immer schnell einen Draht zu denen, die hinten in der Ecke saßen.“
Christa arbeitete schließlich in der stationären Jugendhilfe in Konstanz. Sie merkte dort jedoch sehr schnell, dass das, was sie während ihres Studiums gelernt hatte, nicht ausreichte. Die Grundlagen, die sie sich dort erworben hatte, waren längst nicht genug, um der Komplexität der Arbeit mit den Jugendlichen und ihren Eltern gerecht zu werden. Eine systemische Weiterbildung bot ihr ziemlich viel von dem, was sie für ihre Arbeit brauchte. Seit fast zwanzig Jahren ist sie inzwischen im schweizerischen Winterthur tätig, in einer Einrichtung, die sich um straffällig oder auffällig gewordene Jugendliche kümmert und ihnen den Weg in ein gutes Berufsleben ebnet. Seit Beginn ihrer Berufstätigkeit ist es ihr wichtig, sich den „Anfängergeist“ zu bewahren, nicht in Routine zu verfallen, keinen „starren Blick“ zu entwickeln, geistig jung zu bleiben.
Neben den regelmäßigen Fort- und Weiterbildungen, die ihren Blick immer wieder erweitern, ist es aber natürlich auch ihr „zweites Standbein“, die Fotografie, die ihre Aufmerksamkeit trainiert. In der Fotografie offenbart sich Christas ganz besondere Gabe: Sie hat einen unglaublichen Blick auf das Besondere, das im Alltäglichen, oft auch Vernachlässigten, Unbedeutenden, steckt. Christa fotografiert weder Menschen noch Landschaften, sie fotografiert im Wesentlichen Strukturen – Strukturen, die sie in Gemäuern, auf alten Fässern, auf rostenden Blechen oder in Pfützen entdeckt. Mit dem ganz besonderen Gespür für Details macht sie Schönheit sichtbar, oder besser, erschafft sie Schönheit, wo andere vielleicht nur Verfall sehen. Oder sie zeigt die feine Komik, die sich im Zufälligen verbirgt.
Zur Fotografie kam Christa, ohne es geplant zu haben, bereits während ihres Studiums Mitte der achtziger Jahre, weil es ihr gefiel, was zwei Mit-Studenten mit ihren Kameras machten. Das probierte sie auch – und hatte ihr Ding gefunden. Von Beginn an war ihr der Blick für Details gegeben, und das Interesse an Strukturen, das Besondere des Ausschnitts zu finden, der aus einem rostigen Eisenträger einen „Träger“ von Schönheit macht, der Antrieb für sie, ihre Kunst der Fotografie immer weiter zu vervollkommnen.
Und hier ist auch die Parallele zu ihrem Beruf zu finden. „In der Jugendhilfe ist es ganz wichtig, die Ausnahmen zu sehen und aufzugreifen, also die kleinen Verhaltensweisen oder Situationen, in denen die Jugendlichen NICHT problematisch reagieren. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist niemals linear. Das darf man auch nicht erwarten. Aber plötzlich passiert es, dass die Jugendlichen irgendeine Ressource entdecken – und wenn wir die gemeinsam mit den Jugendlichen ausbauen können, dann entwickelt sich ganz viel darum herum, mit dem vorher keiner gerechnet hat. Deshalb darf man keine Erwartungen hegen, die engen ein. Man muss sich den offenen Blick bewahren. Es ist ein unendlicher Suchprozess. Wenn man die kleinen Ausnahmen nicht sieht, verpasst man die Entwicklungsmöglichkeiten. Den Blick für diese kleinen Ausnahmen, den darf man niemals verlieren“, so erklärt sie es selbst.
Im scheinbar Nebensächlichen zu erkennen, welche Poesie darin verborgen ist, diese Gabe hat sie im Laufe ihrer Karriere als Fotografin immer weiter perfektioniert. Dabei ist ihre Herangehensweise sehr emotional, es steckt kein Konzept dahinter. Sie hält es da mit Picassos „Ich suche nicht – ich finde“. Da sie der Überzeugung ist, dass in unserer Welt bereits viel zu viel bearbeitet, optimiert und geschönt wird, verzichtet sie vollkommen darauf, ihre Objekte irgendwie zu verändern, macht auch keinerlei digitale Bildbearbeitung – ihre Fotos zeigen ihren ganz speziellen Blick, ihre Offenheit, Überraschendes zu entdecken, nichts weiter. Und welche unglaubliche Fülle zeigt sich in diesem „nichts weiter“.
Aber sehen Sie selbst – auch wenn dieses Medium den Zauber, den Christas Fotografien erzeugen, wenn man sie auf Aluminiumplatten aufgezogen in ihrer ganzen Größe sieht, nicht wirklich wiedergibt, so ist doch wenigstens eine Annäherung möglich.
Wunderschön … 💫