Einer meiner Helden

Einer meiner Helden

Einer meiner Helden 846 605

Heldenverehrung, wie sie früher mal üblich war, hat (Gottseidank) ausgedient und wenn sie nicht gerade als „Superhelden“ die Leinwand bevölkern, trifft man im Alltag Helden eher selten oder wenn doch, oft in einem ironischen Kontext. So fragte mich eine Freundin angesichts meiner echt ausgeprägten Verehrung für den französischen Bariton Ludovic Tézier süffisant, ob ich denn noch andere „Helden“ besäße. Da muss ich nicht lange überlegen.

Er war vielleicht kein Held, aber ein mutiger und kluger Mann!

Wenn Sie Harry Graf Kessler schon kennen, bietet Ihnen das, was ich gleich erzählen werde, wahrscheinlich nichts Neues. Wenn Sie ihn noch nicht kennen, lade ich Sie hiermit ein, meine Faszination für ihn zu teilen. Kennengelernt habe ich Harry Graf Kessler, über einen literarischen Umweg, vor etwa fünfunddreißig Jahren. Mir fiel damals der ganz wunderbare und lesenswerte Schelmenroman „Die Insel des zweiten Gesichts“ von Albert Vigoleis Thelen in die Hände, der darin seinen Aufenthalt auf Mallorca während der dreißiger Jahre beschreibt. In dieser Zeit heuerte er als eine Art „Privatsekretär“ bei Harry Graf Kessler an, um seinen kargen Lebensunterhalt etwas aufzubessern. 

Was Thelen über Kessler schrieb, animierte mich, mir zunächst dessen „Tagebücher 1918-1937“ anzuschaffen. Ich habe sie verschlungen, wie später so ziemlich alles, was ich von ihm und über ihn fand. Wer sich für Geschichte, und insbesondere für die deutsche Geschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts interessiert, kann schon mit dieser Auswahl an Kesslers Tagebüchern hautnah miterleben, was in Berlin während der gewaltigen Umwälzungen nach dem ersten Weltkrieg geschah, nimmt aber auch Teil am Geistes- und Gesellschaftsleben eines Privilegierten, der wirklich Gott und die Welt kannte. 

Kultiviert, elegant, privilegiert

Harry Graf Kessler wurde 1868 als Sohn eines sehr reichen deutschen Bankiers und einer adeligen irischen Mutter geboren, die eine geradezu umwerfend schöne Frau gewesen sein muss, so hinreißend jedenfalls, dass sie das Interesse des nachmaligen ersten deutschen Kaisers Wilhelm I erregte, der daraufhin dafür sorgte, dass die Kesslers, die bis dato „bürgerlich“ waren, geadelt wurden und einen Grafentitel erhielten. Harry Graf Kessler, der keine Liebe für die Hohenzollern hegte und insbesondere Wilhelm II verabscheute, hat sich immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, er könne ein Abkömmling von Wilhelm I sein, andererseits besaß er eine auffallende Ähnlichkeit mit Wilhelm II… Naja, wie dem auch sei, mit diesen reaktionären, ungebildeten Banausen, die in seinen Augen weniger Intelligenz und Kunstverständnis als seine geliebten Windspiele besaßen, wollte er nichts zu tun haben.

Der junge Harry wuchs dreisprachig auf, er sprach deutsch, englisch und französisch wie ein Muttersprachler, was ihn nicht daran hinderte, auch Latein und Altgriechisch so gut zu beherrschen, dass er es mühelos im Original lesen konnte, erwies sich als äußerst intelligent und begann schon als Kind mit dem Tagebuchschreiben, was er sein gesamtes Leben lang beibehielt. Er studierte Jura und alles deutete auf eine Karriere im diplomatischen Dienst hin, zu der es jedoch nie kam. Er gehörte im Berlin der 1890er Jahre zur Jeunesse dorée, verkehrte, wie man so schön sagt „in den besten Häusern“, war äußerst kultiviert und mondän und ich nehme an, es gab nicht wenige junge Damen, die nach ihm angelten. Dem stand allerdings ein kleines Hindernis entgegen, Kessler war schwul. Er hat sich niemals „geoutet“, das wäre zur damaligen Zeit auch einem gesellschaftlichen Selbstmord gleichgekommen, ganz davon abgesehen, dass Homosexualität unter Strafe stand. Doch ich nehme an, es gab etliche, die es wussten oder zumindest ahnten, auch wenn man nicht darüber sprach.

Ein großzügiger Mäzen

Kessler unternahm nach seinem Jurastudium ausgedehnte Reisen durch die ganze Welt, auf das Geldverdienen war er ja durch das vom Vater erworbene Vermögen nicht angewiesen. Dieses Vermögen ermöglichte ihm auch, seinen ganz unglaublichen Kunsthunger zu stillen. Er war großzügiger Mäzen für einige Maler und Literaten und besaß ein unermessliches Wissen über Kunst und Kunstgeschichte. Außerdem kannte er wohl so ziemlich jeden bedeutenden Künstler seiner Zeit persönlich, nicht nur die darstellenden, sondern auch Schriftsteller, Dichter und Dramatiker. Jedenfalls erweckt die Lektüre seiner Tagebücher den Eindruck, dass es kaum jemanden von Rang gab, den er nicht kannte. 

Er spielte eine große Rolle im Berliner Kunstleben der Vorkriegszeit, war eine Zeitlang, in seinen frühen Dreißigern, Direktor des Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar, wo er sich, neben seiner Wohnung in Berlin, ein Haus von Henry van de Velde  einrichten ließ, die Vertreter moderner Malerei ausstellte und mit anderen den Deutschen Künstlerbund gründete. Seine Zeit dort endete 1905 mit einem Skandal anlässlich einer Ausstellung von Rodin, dessen virtuose Darstellung nackter Frauenkörper einen solchen Sturm der Entrüstung bei den Weimarer Biedermännern auslöste, dass in der Zeitung geschrieben wurde, die Herren der Schöpfung sollten ihre Frauen und Töchter warnen, eine derart anstößige Ausstellung zu besuchen.

Auf jedem Parkett zu Hause

Kessler behielt auch nach seiner offiziellen Tätigkeit sein Haus in Weimar in der Cranachstr. 15 und machte es zu einem Begegnungsort für Intellektuelle aus halb Europa. Außerdem gründete er in dieser Zeit die Cranach-Presse, die vielbeachtete und preisgekrönte bibliophile Werke herausbrachte. Er reiste weiterhin viel und lebte sein elegantes Leben zwischen Weimar, Berlin, London und Paris, wo er jeweilig Wohnungen unterhielt. Und bei all diesem andauernden Unterwegs-Sein, dem intensiven Erleben und Mit-Gestalten des Kulturgeschehens, dem exzessiven Lesen, der ständigen Theater- und Opernbesuche, sowie all der gesellschaftlichen Veranstaltungen, die er mit seiner Anwesenheit beehrte, fand er auch noch Zeit, neben seinem Tagebuch alle möglichen anderen Dinge zu schreiben, z.B. Abhandlungen über Kunst, sowie unter anderem den „Rosenkavalier“ mit Hoffmansthal – es ist mir völlig schleierhaft, wie er das geschafft hat! Klar, er hatte Bedienstete, die sich um die Organisation seines täglichen Lebens kümmerten, und trotzdem! Welch eine Energie! 

Pazifist, Demokrat, Diplomat

Während des ersten Weltkrieges und in den revolutionären Zeiten danach wandelte er sich peu á peu vom mondänen Kunst- und Gesellschaftsmenschen zu einem engagierten Politiker, zum „Roten Grafen“, wie man bald nannte. Doch er sympathisierte zwar nach der Novemberrevolution mit der USPD, gehörte aber keiner linken Partei, sondern der „Deutschen Demokratischen Partei“ an, spielte eine führende Rolle in der pazifistischen Bewegung und war ein unermüdlicher Bekenner und Anhänger der Weimarer Republik. In dieser Zeit schrieb er eine auch heute noch grundlegende Biographie Walther Rathenaus. In die Zeit kurz nach dem ersten Weltkrieg fällt auch sein einziger wirklich bedeutender Auftritt in der Diplomatie, als er mit der heiklen Aufgabe betraut wurde, zunächst Pilsudski aus deutscher Haft nach Warschau zu bringen und dann dort die deutsche Botschaft zu übernehmen, die äußerst schwierige Verhandlungen über die Rückführung deutscher Soldaten zu bewältigen hatte. Da die polnischen Nationalisten jedoch kurz darauf alle diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrachen, war sein Dasein als Botschafter ein sehr kurzes Zwischenspiel. Seinen nachfolgenden Bemühungen als Diplomat war kein nachhaltiger Erfolg beschieden und er wurde mehr und mehr zum Publizisten, der sich für die Weimarer Republik und gegen die Rechtskonservativen einsetzte. Allerdings gelang es ihm nicht, einen Abgeordnetensitz zu erringen, was ihn bewog, sich mehr und mehr aus der Politik zurückzuziehen.

Ein trauriges Ende

Es gäbe noch so unglaublich viel über diesen Menschen zu schreiben, der wie nur je einer die Bezeichnung „faszinierende, schillernde Persönlichkeit“ verdient, nur noch so viel: Genauso interessant wie seine Erfolge ist für mich sein wiederholtes Scheitern, denn letztlich hat er selten erreicht, was ihm vorschwebte, hat nie die Rolle gespielt, die er gern eingenommen hätte, errang nie den Erfolg, der ihm gebührt hätte. Da Geschäftssinn nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften zählte, verlor er auch mit seiner hochgelobten Cranach-Presse viel mehr Geld als er einnahm. Gestorben ist er verarmt und allein, nachdem er nach und nach alle seine heißgeliebten Kunstwerke und die Cranach-Presse verkauft hatte. Bei der Machtergreifung der Nazis war er glücklicherweise gerade außer Landes in Paris, denn sonst hätte er sein Leben wohl im KZ beendet. Er kehrte damals, klug wie war, gar nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern verbrachte die letzten Lebensjahre auf Mallorca, finanziell unterstützt von seiner Schwester. Weil seine Gesundheit immer schlechter wurde reiste er 1935 nach Südfrankreich, wo er 1937 in einem Krankenhaus verstarb. Seine letzte Ruhe fand er auf dem Friedhof Père Lachaise in Frankreich. 

Welch ein Lebensweg! Nein, ich beneide ihn nicht – obwohl… für Harry Graf Kessler wäre es wohl ein Leichtes gewesen, Ludovic Tézier persönlich kennenzulernen und da kann man schon neidisch werden, oder?