Ein armes Schwein

Ein armes Schwein

Ein armes Schwein 846 605

Kennen Sie das alte Gleichnis:

Weil der Nagel verloren ging, ging das Hufeisen verloren.
Weil das Hufeisen verloren ging, stolperte das Pferd.
Weil das Pferd stolperte, stürzte der Ritter.
Weil der Ritter stürzte, ging der Kampf verloren.
Weil der Kampf verloren ging, ging der Krieg verloren.
Weil der Krieg verloren ging, ging die Freiheit verloren.

Man könnte auch kürzer sagen, kleine Ursache, große Wirkung. Ich möchte einmal wieder eine jener Geschichten aus der Geschichte erzählen, die mir und hoffentlich auch Ihnen, so viel Freude machen und in der es genau darum geht.

Gegen Abend des 13. Oktober 1131 ritt eine Gruppe ganz offensichtlich wohlhabender und vornehmer junger Männer auf der Straße von Vincennes nach Paris. Einer aus der Gruppe stach trotz seiner erst fünfzehn Jahre besonders hervor. Er strahlte außerordentliches Charisma aus, war gutaussehend und besaß eine elegante Figur, sein Name lautete Philippe. Die jungen Herren kehrten von der Jagd zurück und wollten ihr Zuhause erreichen, bevor es dunkel wurde, zur damaligen Zeit mehr als ratsam. 

Am 13. Oktober dieses Jahres befand sich Paris in einem Ausnahmezustand. Der König selbst, Ludwig VI, war gerade am Vortag mit seinem Hof und einer großen Entourage von Soldaten eingetroffen, denn er plante einen Feldzug. Außerdem war auch der Papst, der eigentlich im Begriff stand nach Reims aufzubrechen, mit seinem Gefolge noch in der Stadt. Kurz, in Paris, zur damaligen Zeit noch längst nicht die Großstadt, die wir kennen, herrschte ein ziemlicher Tumult. Ungeachtet der immer enger werdenden Straßen stürmten die jungen Männer in vollem Galopp durch das an dieser Stelle noch eher dörfliche Paris. Plötzlich geschah es, dass Philippe, der ein besonders großes, besonders schweres und besonders wildes Pferd ritt, zu Boden stürzte und mit dem Kopf auf einen Stein aufschlug. Das erschreckte Pferd schlug aus, trat auf Philippe, stürzte schließlich selbst zu Boden und begrub seinen Reiter unter sich.

 Was war geschehen? Ein Schwein war plötzlich auf die enge Straße gerannt und zwischen die Beine des Pferdes geraten, das daraufhin gescheut hatte und so den Unfall verursachte. Aus den armseligen Hütten, die die enge Straße säumten, kamen Leute herbei, die den armen Jungen, der schwer verletzt, mit vielen gebrochenen Knochen und heftig blutend dalag, aufhoben und in eine der Behausungen brachten. Dort starb er noch in derselben Nacht, in Anwesenheit des Königs und der Königin, die sich in diese bescheidene Unterkunft begeben hatten, denn jener Philippe war kein anderer als ihr ältester Sohn, der Erbe Frankreichs.

Durch seinen Tod geriet die Erbfolge allerdings durcheinander, denn Ludwig der VI besaß zwar einen zweiten Sohn, doch der war eigentlich für eine kirchliche Laufbahn vorgesehen und hatte mitnichten die Erziehung erhalten, die ihn für die Aufgaben eines künftigen Königs vorbereitet hätten. Philippe war im strengen Sinn des Wortes auch nicht mehr der Kronprinz gewesen, sondern er war bereits gesalbter König, er hatte sich den Thron mit seinem Vater geteilt. Diese Praxis der Capetinger, den Sohn schon zu Lebzeiten des Königs zu salben, stammte noch von den Karolingern her und diente dazu, die Erbfolge und damit die Dynastie zu festigen. So war es also ein König, ein Rex desideratus, der wegen eines unglückseligen Schweines sein Leben gelassen hatte.

Dieses Schwein galt den Zeitgenossen als Botschafter des Teufels, das einen besonders vielversprechenden Prinzen auf dem Gewissen hatte – und es war ein schreckliches Omen. Ein Schwein, das war das Sinnbild für Schmutz, Verdorbenheit, Unglück. Im Mittelalter, als Symbole eine noch viel größere Rolle spielten als heute, war der Umstand, dass ausgerechnet ein Schwein einen König getötet hatte, mehr als verstörend. So etwas war in Frankreich noch nicht passiert!

Ludwig VI und Königin Adelaide waren am Boden zerstört. Selbst Papst Innozenz II, der in Reims ein Konzil eröffnen wollte, gelang es nicht, sie zu beruhigen. Er versuchte, sie mit den Worten zu trösten, dass Philippe zu gut für diese Welt gewesen sei und jetzt neben dem himmlischen Vater weile und dass sein allzu kurzes Leben als Beispiel für die Nachfolgenden gelten solle. Doch diese frommen Worte halfen den Eltern nicht über ihren Kummer hinweg.

Nach der Beerdigung am 15. Oktober galten zunächst zehn Tage Staatstrauer, schließlich war ein König gestorben, aber dann musste das Leben weitergehen. Also wurde das Schicksal des jüngeren Sohnes wegen eines Schweins komplett umgekrempelt und der Elfjährige ruckzuck in Reims zu Ludwig VII gesalbt. Obwohl der Papst selbst die Zeremonie vornahm, waren Ludwig VI und sein Gefolge längst nicht überzeugt, dass damit die Spuren des Unglücks ausreichend getilgt waren. In der Folge verstärkte der König während der sechs Lebensjahre, die ihm noch verblieben waren, seine Bemühungen, Gottes – oder besser der kirchlichen Würdenträger – Wohlgefallen zu erringen, indem er großzügige Schenkungen an die Kirche veranlasste, eine Abtei gründete und sich in beständiger Reue übte. Denn er, wie auch viele seiner Untertanen, sahen in dem Unfall eine Strafe Gottes. Zwar war das königsmordende Schwein ohne jeden Zweifel ein Abgesandter des Teufels gewesen, aber, ABER: Gott hatte es zugelassen! Schließlich hatten die Capets mit Philippe I schon einen großen Sünder in der Familie gehabt, der wegen Ehebruchs exkommuniziert worden war. Und auch Ludwig VI selbst hatte sich einiges vorzuwerfen, er hatte sich ungebührlich und ungerecht gegen etliche Bischöfe seines Reichs betragen, ein Leben der Völlerei geführt und an einem Kreuzzug hatte er auch nicht teilgenommen. Der junge Philippe büßte also wohl für die Sünden von Großvater und Vater.

1137, eine Woche vor dem Tod seines Vaters, heiratete Ludwig VII in Bordeaux eine gewisse Alienor, oder Eleonore, wie wir sie meist kennen, von Aquitanien. Eleonore von Aquitanien, die als „Königin der Troubadoure“ und spätere streitbare Königin von England große Berühmtheit erlangte, gebar dem französischen König nach langen acht Jahren Ehe zwar zwei Töchter, aber keinen Sohn. Ein sehr schlechtes Zeichen für eine Dynastie, in der ausschließlich die männlichen Nachkommen zählen. Überhaupt stand die Regierung Ludwigs VII unter keinem guten Stern: Er haderte damit, überhaupt König sein zu müssen, zerstritt sich mit seinen Beratern, entfremdete sich vom Papsttum, was bis zur Exkommunikation führte und schließlich in die allgemeine Überzeugung mündete, auf der Dynastie der Capets laste ein Fluch.

In seiner Verzweiflung beschloss der König, selbst auf einen Kreuzzug zu ziehen, um Gott gnädig zu stimmen. 1146 verließ er die Messe und brach gen Osten auf. Es wurde ein komplettes Fiasko. Nicht nur, dass das Unternehmen keineswegs eine Hilfe für die Christen im Heiligen Land bot, es führte darüber hinaus dazu, dass die Muslime ihre zerstreuten Kräfte vereinigten und somit stärker denn je wurden. Bei seiner Rückkehr nach Frankreich war Ludwig VII so gut wie am Boden zerstört: Der Kreuzzug eine Katastrophe, zahlreiche Ritter und Adelige zu Tode gekommen, der Orient gänzlich in der Hand der Muslime. Nach zwölf Jahren Ehe war außerdem seine Beziehung zu Eleonore komplett ruiniert und ein männlicher Erbe immer noch nicht vorhanden. Die Ehe wurde aufgelöst und Frankreich und der König mehr denn je überzeugt, dass diese Dynastie fluchbeladen sei. Man stellte sich sogar die Frage, ob er überhaupt ein legitimer König war. Verdankte er seine Krone nicht einem dahergelaufenen Schwein?

Um Gott (und die Gläubigen) zu besänftigen, ordnete Ludwig VII an, die Heilige Jungfrau Maria zur wahren Königin Frankreichs auszurufen. So kam es, dass die beiden Attribute Marias, die azurblaue Farbe des Mantels, mit dem sie für gewöhnlich bildlich dargestellt wurde, und die Lilie, die ein florales Symbol Mariens war, hinfort das Banner Frankreichs bildeten – das azurblaue Banner mit den goldenen Lilien, das Emblem der französischen Monarchie bis zum bitteren Ende viele Jahrhunderte später.

Frankreich unter den besonderen Schutz der Jungfrau Marie zu stellen, war offenbar eine segensreiche Maßnahme. Die Dynastie konnte den Schandfleck, den das Schwein hinterlassen hatte, ausmerzen. Ludwig VII, der zwar Maria als Frankreichs Königin proklamiert hatte, verließ sich zwecks Zeugung eines Nachkommens doch lieber auf eine menschliche Protagonistin und tatsächlich, mit seiner zweiten Frau klappte es mit dem männlichen Erben. Das Königreich Frankreich und das himmlische Reich hatten endlich ihren Frieden geschlossen.

Nun kann man sich fragen: Wie hätte die Geschichte Frankreichs, und damit Europas, wie hätte die Geschichte des Heiligen Landes und der Muslime ausgesehen, ohne jenes unglückselige Schwein? Wäre mit einer anderen Konstellation, einem anderen König, alles ganz anders gekommen? Unser Schicksal wird vermeintlich geprägt von den Leuten mit den großen Namen, die in den Geschichtsbüchern stehen, aber wie oft sind es die armen Schweine, die erst den Ausschlag geben?

Bild von mzmatuszewski0 auf Pixabay