Unglaublich, wie schwer so ein erster Satz nach sechs Wochen Pause ist! Wenn dann noch dazukommt, dass einem im Ferienhaus ein Buch in die Hände gefallen ist, welches Menschen, die schreiben, nützliche Hinweise und Ratschläge zu geben verspricht, ist man tagelang wie gelähmt. Da hieß es nämlich an prominentester Stelle und sozusagen im Fettdruck mit Großbuchstaben, der erste Satz sei das Allerwichtigste überhaupt, der müsse reinhauen, der müsse den Leser sofort mit unwiderstehlicher Macht in den Text hineinziehen, sodass er gar nicht anders könne, als weiterzulesen. Nun ist auch mir klar, dass es ohne den ersten Satz nicht recht weitergehen will. Aber wie ich jemals so eine Wucht von Satz zusammenbasteln soll – also, ich habe tagelang gegrübelt, leider ohne Ergebnis.
Vielleicht bringt die Übung mich ja weiter. Bleiben Sie auf jeden Fall dran, an den „alten Schachteln“, denn wer weiß, in zwei drei Jahren lesen Sie vielleicht diesen Satz, der Sie umhaut. Dass Übung den Meister macht, der Spruch gilt nämlich immer noch, wohingegen man den vom Hans, der nicht mehr lernen kann, was Hänschen versäumt hat, getrost auf dem Schrottplatz der falschen Glaubenssätze entsorgen kann.
Es ist nämlich niemals zu spät noch zu wahrer Blüte zu kommen, schon gar nicht für Spätzünder! Die Wissenschaft, die uns oft so aufregende Erkenntnisse beschert wie etwa die, dass doch ein gewisser Zusammenhang besteht zwischen Leibesumfang und Nahrungsaufnahme, hat in einer groß angelegten Studie herausgefunden, dass der kognitive Gipfel für verbales Wissen jenseits eines Alters von 65 Jahren liegt. Zugegeben, die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit ist in jüngeren Jahren deutlich höher – aber was sagt das schon? Es kommt doch darauf an, wieviel hängenbleibt, von all dem Verarbeiteten und wieviel man davon dann auch wieder ausspucken kann. Da scheinen wir alten Schachteln doch einiges zu bieten zu haben.
Es lebe die Spätzünderin! Und der Spätzünder!
Meine Weisheit bezüglich der spät erblühten Talente habe ich aus einem Artikel von Annette Schäfer, der unter dem Titel „Meine Zeit kommt jetzt“ in der September-Ausgabe der „Psychologie heute“ erschienen ist. Darin wird allen Spätzündern, und all jenen, die es werden könnten, aber sich nicht trauen, sehr viel Mut gemacht – das ist natürlich wunderbar spritziges, belebendes Wasser auf die Mühlen alter Schachteln. Die Autorin schildert einige Beispiele von Spätberufenen, die das ihnen innewohnende Potenzial erst zu einem Zeitpunkt entwickelten, der weit jenseits des Erwartbaren lag – wie zum Beispiel die amerikanische Malerin Anna Mary Robertson Moses, die erst mit über 75 zu malen begann und bis 93 als Künstlerin arbeitete.
Der Artikel räumt auch mit dem Irrglauben auf, Spätzünder seien die absolute Ausnahme. Das Gegenteil ist der Fall, sie sind alles andere als selten. Ich zitiere Annette Schäfer: „Jeder Spätblüher und jede Spätblüherin schreitet auf einem ganz eigenen Pfad voran. Darin unterscheiden sie sich von Menschen, die bereits früh im Leben zur Blüte kommen.“
Häufig genug zeigt sich ein Talent, oder ein bestimmtes Interesse, aus welchen Gründen auch immer eben erst in späteren Jahren. Vielleicht wurde man von Eltern oder anderen Bezugspersonen als Kind oder Jugendlicher so entmutigt, dass man einen Weg, dem man eigentlich gern gefolgt wäre, aufgab. Vielleicht waren die materiellen Umstände so, dass man keine Möglichkeit hatte, oder keine sah, sich schon früh in eine bestimmte Richtung zu entwickeln und seine Träume in die Tat umzusetzen. Oder vielleicht waren einem in jüngeren Jahren andere Dinge einfach wichtiger. Was auch immer die Lebensumstände waren, die dazu geführt haben, dass man nicht schon mit zwanzig an dieser besonderen Fähigkeit feilte, sich diesem besonderen Wissensgebiet widmete, es ist vollkommen wurscht! Hauptsache, man tut es jetzt und hört weder auf fremde noch auf die eigenen Stimmen, die so fürsorglich meinen: „Spinnst du? Dafür bist du doch viel zu alt!“
Zu alt, das ist absolut alter Humbug! So lange man noch alle beisammen hat, sollte man sich keineswegs von irgendwelchen überkommenen Glaubenssätzen bremsen lassen. Klar sind bei manchen Fähigkeiten jüngere Menschen bevorzugt, aber, ich zitiere noch einmal Annette Schäfer: „…in anderen Bereichen können Menschen im mittleren und höheren Alter ihre Stärken ausspielen. Das gilt sogar für Kreativität, die gemeinhin als Domäne der Jugend gilt. So zeigt eine Übersichtsstudie niederländischer und australischer Forscher, dass viele Aspekte der Psyche, die für kreative Aufgaben und Innovationen wichtig sind, im Laufe des Lebens meist an Kraft gewinnen. Dazu gehören Selbstwirksamkeit, intrinsische und generative Motivation, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, soziale Dominanz und positive Stimmung.“
Eine späte Blüte zur Entfaltung zu bringen, scheint mir eine äußerst befriedigende Angelegenheit zu sein – wer hat sich noch nie über die Rose gefreut, die ganz unerwartet im November noch aufgeblüht ist?
Bild von Holger Schué auf Pixabay
Liebe wunderbare Schreiberin
Wie immer ein echtes Vergnügen! Auch ich fehle mich mit beinahe 66 im Schwung und auf dem richtigen Platz. Endlich…. als ich vor 20 Jahren die TA entdeckte und den Wunsch äußerte die Ausbildung zu machen, bekam ich als Antwort: das dauert aber sehr lang ! Nun ich habe mich nicht davon abbringen lassen und wurde spät eine leidenschaftliche TA-Therapeutin. Spät gezündet brennt mein Feuer.
Herzliche Grüße
Isabel Seitz