Altweibersommer

Altweibersommer

Altweibersommer 1371 668

Nachdem, zumindest in unseren Breiten, der Winter viel zu lange nicht weichen wollte, und dieses in Energie-Spar-Zeiten, als wir zu Hause bei 19° in Kuscheldecken eingewickelt bibbernd unsere Existenz fristeten, werden wir nun mit einem Sommer verwöhnt, der es mit dem Abschiednehmen auch nicht eilig hat. Das ist unsere Zeit, meine Damen! Diese wunderbare Zeit, wo alle Farben noch einmal strahlen, die Temperaturen so viel angenehmer sind, als wenn man vor lauter Hitze ganz schlapp ist, wo man sich so richtig des Lebens freut, weil es ein Geschenk des Himmels ist, das ist der Altweibersommer! Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen. Wer weiß, wie lange wir dieses schöne Wort noch benutzen dürfen.

Das einzige, was mich am Altweibersommer wundert ist nämlich: Dass es noch keinen Aufschrei in den asozialen Netzen, in den Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen gegeben hat, dass sich noch keine Protestbewegung in den Senioren-Residenzen gebildet hat, dass sich noch keine Rentnerinnen irgendwo hingeklebt haben, um sich gegen diese himmelschreiende Verletzung ihrer Menschenwürde, gegen diese sprachliche Gewaltanwendung, gegen diesen Todesstoß auf ihre wie immer geartete Identität aufs Schärfste zur Wehr zu setzen. Und natürlich nach bestem Wissen und Gewissen zu leiden. Als Opfer zu leiden ist ja seit einiger Zeit ein echter Volkssport geworden. Wie, Sie leiden noch gar nicht? Also jedenfalls nicht an „verbaler Gewalt“, die sich wie eine Waffe in ihre Eingeweide bohrt, sodass Sie „total verletzt“ nur noch rumjammern können und mit dem Finger zeigen auf Leute, die Ihnen so was antun?

Ich finde die neue Leidensfähigkeit bei manchen unserer Zeitgenossen äußerst erstaunlich. Über die Opferhaltung, die jene einnehmen, deren Meinung man nicht teilt, zum Beispiel die Leute von der AfD, stand genug in der Zeitung, dazu brauche ich nichts mehr zu sagen, aber manchmal treffe ich doch auf Beispiele, die mich nachhaltig begleiten. Lassen sie mich mit einem Zitat beginnen:

„…wie ich vor zwei Tagen an einer Supermarktkasse wieder einmal feststellen durfte, als ich hörte, wie jemand seine Begleitperson fingerweisend auf mich fragte: „Mama, warum hat die Frau da so kurze Haare? Hat die Krebs oder will die ein Mann sein, oder was?“ (So viel zu der oben erwähnten verbalen Gewalt, der ich mich im Schnitt einmal am Tag ausgesetzt sehe.)“

Nachzulesen ist dieses Zitat auf dem ansonsten von mir sehr geschätzten und hier schon öfter erwähnten Blog praefaktisch.de unter dem Titel „Geschlechtergerechte Sprache. Eine ethische Reflexion“ von Janina Loh, die sich als non-binäre Person begreift. Zu dem Beitrag insgesamt sage ich hier nichts, ich finde ihn, unter uns, zu schrecklich für Worte in unserer arg gebeutelten Sprachr, bilden sie sich selbst ein Urteil, Sie wissen ja nun, wo er zu finden ist, aber zum Zitat möchte ich, lange nachdem ich es gelesen habe, nun doch etwas sagen. Ich fand diese Anekdote so überwältigend larmoyant und dämlich, dass ich mich wochenlang fremdgeschämt habe, bevor ich mich endlich dazu durchringen konnte, mich dazu zu äußern. Ganz davon abgesehen, dass es in meinen Augen so etwas wie „verbale Gewalt“ im Sinne von jemandem Gewalt antun, nicht gibt, finde ich es eine Pervertierung der Opfer- Haltung, wenn man einem fragenden Kind – und das „Mama“ in der Anekdote scheint mir ein untrügliches Zeichen zu sein, dass es sich um die Äußerung eines Kindes handelt, so viel Macht über die eigene Befindlichkeit einräumt, dass man sich davon „verletzt“ fühlt.

Ich kann in dem Zusammenhang eine eigene Anekdote beisteuern, ich hoffe, ich habe sie nicht schon mal hier erzählt. Ebenfalls im Supermarkt hörte ich, wie ein Knirps mit Blick auf mich, seine Mutter fragte: „Mama, warum ist die Frau so alt?“ Ich hätte jetzt natürlich, von so viel verbaler Gewalt getroffen, mit einer Todesarie auf den Lippen zusammenbrechen sollen. Leider habe ich es vermasselt, indem ich in Lachen ausbrach und zu dem Kind sagte: „Ich bin so alt, weil ich schon so lange auf der Welt bin.“ Man könnte sich also vorstellen, dass Janina Loh zu dem Kind sagte: „Ich habe so kurze Haare, weil ich mir damit gefalle!“ Sie hätte natürlich auch giften können: „Hat dir noch keiner beigebracht, dass man keine persönlichen Bemerkungen über Anwesende macht?!“ Das wäre nicht so nett gewesen, aber immer noch besser, als sich sofort mit Schmackes in die Opferrolle zu stürzen. Nun ist es unleugbar so, dass die Opferrolle mit vielen Vorzügen gesegnet ist. Man kann sich selbst unendlich leid tun, man kann sich von anderen bemitleiden lassen, man kann die gesamte Verantwortung abgeben und sie den anderen aufhalsen, man kann Schuldige suchen und verurteilen, man kann das Nachdenken aufgeben, denn dass es einem besser geht, liegt ja nicht in der eigenen Hand, also muss man sich auch nichts überlegen, und man kann auch wunderbar selber auf andere einschlagen, denn sie sind ja schließlich Gewalttäter. Es fallen einem bestimmt noch mehr Vorteile ein, die Opferrolle ist einfach perfekt für jede Sorte Passivität und verkleidete Aggression. (Eigentlich sollte es unnötig sein, aber ich möchte hier doch erwähnen, dass mir klar ist, dass es jede Menge echte Opfer gibt, die jede Hilfe verdienen, ich unterscheide hier elementar zwischen „Opfer“ und „Opferrolle“. Aus gegebenem Anlass füge ich noch hinzu, dass ich es unerträglich finde, wenn Menschen, die sich anders fühlen und anders leben wollen als der „normale“ Rest, dafür diskriminiert und angegriffen werden. Jeder Angriff auf Menschen der queeren Gemeinschaft ist einer zuviel – aber die Frage eines Kindes zählt für mich nicht zu einem gewalttätigen Angriff.)

So, nun zurück zum Altweibersommer: Ist es nicht geradezu furchtbar, wie wir älteren Damen hier gleichgestellt werden mit Spinnenweben, mit verblühender Schönheit, mit welkendem Laub, mit kälter werdenden Nächten (ha, wer denkt da nicht daran, dass unsere Nächte auch nicht mehr so heiß sind, wie sie mal waren!), mit runzlig werdenden Zwetschgen, mit Fallobst – die Assoziationen dazu wage ich gar nicht auszusprechen, also, ich finde, wir haben genug Gründe, um uns zu grämen, dass man uns mit diesem verbalen Gewaltwort so unendlich verletzt. Lassen Sie uns ein bisschen wehklagen und unsere Wunden lecken -und dann gehen wir ins Eiscafé und lecken genussvoll an den letzten Eiswaffeln.

Bild von Silvia Stödter auf Pixabay
Ein Kommentar
  • Liebe Renate – Deine Antwort: „Weil ich chon so lnge auf der Welt bin.“ Einfach wunderbar, himmlisch, zum Jaulen. Da wäre ich gerne dabei gewesen! Liebste Grüße und mal wieder Dank für Deinen Artikel – Luitgard