Vom dringenden Bedarf an Philosophie

Vom dringenden Bedarf an Philosophie

Vom dringenden Bedarf an Philosophie 1371 668

Man darf auch von einem großen Opernliebhaber, respektive einer Opernliebhaberin, nicht verlangen, dass er, respektive sie, von restlos allem restlos begeistert ist. Das ist meine bescheidene Meinung, sollte ich vielleicht hinzufügen, denn heutzutage kann man gar nicht vorsichtig genug sein bei jedweder Äußerung. Nachher fühlt sich wieder irgendjemand auf den Schlips getreten, obwohl er/sie/divers gar keinen umhat. Weil ich Opern im allgemeinen und italienische im besonderen sehr liebe, sah ich neulich mit dem Gatten und Freunden eine Open-Air-Oper im St.Galler Klosterhof. 

Das ist ein wunderbares Areal mitten in der St.Galler Altstadt, sehr idyllisch und wunderbar geeignet für ein solches Event. Gegeben wurde „Giovanna d’Arco“, ein Frühwerk von Verdi. Ich freute mich sehr darauf, denn diese Oper kannte ich noch nicht. Sagen wir so, es ließ sich für mich beim Hören leicht nachvollziehen, weshalb es ein selten gespieltes Werk ist und die großen Häuser ihre Finger davon lassen. Es wäre kein größerer Verlust, verschwände diese Oper ganz von der Bildfläche. (Habe ich schon erwähnt, dass ich in diesem Blog immer nur meine ganz private Meinung wiedergebe, die keinerlei Anspruch darauf erhebt, als allgemeingültige Maxime von der Mitwelt aufgenommen und in die Tat umgesetzt zu werden?) Verdi hat herrliche Opern geschrieben, die ich hundertmal hören kann, aber „Giovanna d’Arco“… also, da hat er wohl noch geübt. Die Inszenierung hatte dennoch ein paar Einfälle geboten, die mich wirklich beeindruckt haben, weil das Grauen und das Grausame des Krieges sehr nachdrücklich in Bilder gefasst wurden. 

Das Ensemble war ebenfalls nicht zu beanstanden. Da war nur eine Sache, die mich schon öfter bei verschiedenen Arten von Aufführungen gestört hatte: Dass die Kostüme, die man Darstellern aufzwängt, oft so gar nicht zur Rolle und auch nicht zu deren figürlichen Gegebenheiten passen. In diesem Fall war es die Giovanna. Wir erinnern uns, bei Jeanne d‘Arc handelt es sich um eine fünfzehnjährige, zarte Jungfrau. Die jedoch im vorliegenden Fall von einer Sängerin verkörpert wurde, bei der man eher an eine korpulente Matrone mittleren Alters dachte und die in einem Kostüm auftreten musste, das einen diesen Umstand keine Sekunde lang vergessen ließ.

In der Pause baten wir einen fremden Herrn, der allein an einem der wenigen Tische stand, ob wir uns mit unserem Cüpli Sekt dazustellen dürften. Da beging ich den Fehler, ganz harmlos zu fragen – und zwar nicht in die Runde, sondern meine Freundin, weshalb wohl Kostümbildner, wenn sie eine Idee hatten, so gar nicht darauf achteten, ob diese Idee zu den Darstellern passt. Oh lálá, da bekam ich aber was auf die Ohren von dem fremden Herrn – wie ich mich unterstehen könne, so etwas zu sagen angesichts einer dermaßen überwältigend, unglaublich großartigen Inszenierung, bei der er dagesessen sei und anderthalb Stunden „nuur g’hüület hätt“, weil es so schön sei. Einigermaßen verblüfft angesichts dieser Aggressions- Arie in d-moll, ließ ich mich zu der Erwiderung hinreißen, ich fände die Inszenierung auch gut, darum ginge es mir ja nicht. Das besänftigte den Rächer der Enterbten jedoch nicht, sondern er beschimpfte mich aufs Neue, mit erneutem Hinweis darauf, er habe anderthalb Stunden „nuur g’hüület“ – und wie ich überhaupt dazu käme, das sei ja echt das Allerletzte. (Eine eigene Meinung ist ja auch in der Tat eine Zumutung.) Leider konnte ich meine Klappe immer noch nicht halten und bemerkte, obzwar ich einige Einfälle der Regie auch geschätzt hätte, würde ich doch immer auch auf die Details achten. Wie zu erwarten, zog das eine weitere Arie, gegen die die Hass-Tiraden des Conte di Luna im „Trovatore“ schlankweg verblassen, nach sich und ich – muss man sich mal vorstellen, wie hartnäckig man sein kann – hatte immer noch nicht genug und sagte, dass ich mich jetzt eigentlich lieber wieder mit meinen Freunden unterhalten würde. Der neuerliche Ausbruch mit Hinweis auf seine Tränenflut veranlasste uns schließlich zum fluchtartigen Rückzug – den Rest der Pause hielten wir unser Cüpli in sicherer Entfernung halt in der Hand.

Was ich mich seither frage: Warum, in drei Teufels Namen, habe ich ihn nicht nach dem ersten Anschiss, den er mir verpasste, mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt: „Pardon, kennen wir uns?“ Leider kommt man ja vermutlich nie wieder im Leben in solch eine absurde Situation, ich werde es also nie ausprobieren können, ob ihn das zum Schweigen gebracht hätte. Vermutlich nicht, zu arrogant, ich weiß schon…  aber stoisch bleiben, das hülfe wahrscheinlich, wie in fast allen Lebenslagen.

Stoizismus zeichnet sich zum Beispiel dadurch aus, dass es keine Gurus gibt, denen man bedingungslos zu folgen hat, auch keine „heilige Bücher“, die gemäß ihrer ursprünglichen Wortbedeutung ausgelegt werden müssen. Stoiker orientieren sich in den ethischen Grundsätzen ihres Handelns an der eigenen reflektierenden Vernunft und sind auch nicht zu eitel, die Lehren von Andersdenkenden zumindest selektiv zu berücksichtigen. So hat insbesondere Seneca betont, dass die Fähigkeit des Stoikers, eigene Urteile zu fällen, auch beinhalten kann, dass auf die Lehren von vermeintlichen Antagonisten zurückgegriffen werden muss. Klaro, sei niemals zu stolz, dazuzulernen.

Ich zitiere jetzt mal aus einem Beitrag von Markus Rüther, den ich auf der Seite von www.praefaktisch.de unter dem Titel „Er ist wieder da! Die Renaissance des Stoizismus“ gefunden habe, denn besser kann man es nicht sagen: 

„Der Mensch muss seinem ergon (d. h. seiner ihm eigentümlichen Natur) folgen, nämlich vernünftig und sozial handeln. Im Konkreten heißt das: Er muss einen bestimmten Charakter ausbilden, was für Stoiker beinhaltet, das eigene Denken, Fühlen und Handeln so zu trainieren, dass am Ende ein tugendhafter, das meint: ein vernünftiger, gerechter, mutiger und selbstbeherrschter, Mensch (Hervorhebung von mir) zu erkennen ist….  Das stoische Glücksversprechen passt zum Zeitgeist: Es ist zugleich egalitär und individualistisch. Egalitär ist vor allem, dass jeder die Möglichkeit hat, ein gutes Leben zu führen – egal, von welcher Abstammung er ist, welchen Bildungsgrad er genießt und welchen sozialen Rang er bekleidet. Das einzige, was zählt, ist die Formung des eigenen Charakters, die eine Praxis darstellt, die jedem prinzipiell offensteht. Individualistisch daran ist, dass mit dieser These auch verbunden ist, dass das gute Leben nur vom jeweiligen „Selbstformer“ abhängt. Es hat nicht nur jeder die Möglichkeit auf ein gutes Leben. Das Individuum hat es auch – wie es der stoische Merksatz: ominia mea mecum porto, ausdrückt – immer schon im Gepäck. Es liegt in ihm, nämlich in seinem Denken, Fühlen und Handeln – kurzum: in seinem eigenen Charakter. Entsprechend kann es durch nichts beeinträchtigt werden – weder durch andere Menschen noch durch widrige Umstände……. Der stoische Weise ist also beides: Es ist lebensnaher Praktiker und reflektierender Philosoph.“

Das ist alles nicht einfach, weshalb wir weiter in dem Beitrag gleich die kalte Dusche kriegen: „Der stoische Weise, so heißt es, ist so selten wie der Phoenix, und der taucht nur alle 500 Jahre auf.“ Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass irgendjemand außer Harry Potter und Albus Dumbledore in den letzten fünfhundert Jahren einen Phönix gesehen hat. Aber, wie schon im letzten Beitrag erwähnt, die Karte „Gib niemals auf“ steht immer noch in meinem Regal. Also gehe ich jetzt in mich und trainiere mittels mentaler Kraftanstrengung meine Fähigkeit zu stoischer Tugend und gebe unumwunden zu, dass meine Kritik des Kostüms möglicherweise Teil eines kleinlichen Charakterzuges offenbarte, den es unverzüglich abzustellen gilt – und wenn das nächste Mal jemand behauptet, er habe „anderthalb Stunden nuur g’hüület“ lupfe ich nicht die Augenbrauen, sondern reiche ihm voll spontanem Mitgefühl ein Taschentuch.

Bild von Brigitte Werner auf Pixabay
2 Kommentare
  • Hansjörg Reichert August 4, 2022 um 1:26 pm

    Oh wie schade, dass Sie für diese Aufführung unser schönes Fest „sausen“ ließen. Sie hätten sich bestimmt besser amüsiert! Nächstes Mal eben doch wieder Verdi in Verona, ist ja denn auch nicht mehr so weit von St. Gallen 🙂

    Liebe Grüße

    Hansjörg Reichert

  • Lieber Herr Reichert, genau den Gedanken, dass wir Ihr Fest mehr genossen hätten, hatte ich tatsächlich auch! Das nächste Mal machen wir es besser!