Die Zahnbürste als Hemdglonker

Die Zahnbürste als Hemdglonker

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Ich freue mich außerordentlich, den Leserinnen und Lesern heute etwas ganz, ganz Besonderes anbieten zu können: Einen Einblick in die alemannische Fasnacht hier bei uns am Bodensee, wie man ihn schöner nicht hätte geben können! Dass ich diesen Gastbeitrag veröffentlich darf, dafür bedanke ich mich von ganzem Herzen bei Dr. Hansjörg Reichert, dessen Leidenschaft für Fasnet in seiner Schilderung wunderbar lebendig wird.

Die Zahnbürste als Hemdglonker

Kennen Sie das auch? Wenn in einem alemannischen Haushalt so im späten Januar der Christbaum zu Feuerholz wird und der Weihnachtsschmuck in Kisten verschwindet, dann wird es Zeit die Fasnetskisten unter der Dachschräge hervorzuholen, dazu die großen Überseekoffer, voll mit Kostümen (alemannisch: Häs), Perücken, Hüten, Accessoires und Schminkkästchen. Und du kannst alles noch so schön ordnen, über die Fasnetszeit leeren sich die Kisten und das Chaos breitet sich über unser Bauernhaus aus, überall Kostüme, Hüte, Glöckchen, Nähzeug, Rätschen, Waschbretter, Instrumente, Saublodern …

Nach den großen Narrentreffen beginnt bei uns die Fasnet am Samstag vor dem Schmutzigen Dunschdig mit einem großen Ball mit angesagter Band, Häsprämierung, Guggemusiken. Aber oh weh: Unser alter Narrenschopf, provisorisch für ein Sängerfest vor 98 Jahren erbaut, ist abgebrannt. Dieses Jahr feiert die Zunft in einer großen Diskothek. Und so trifft nach und nach die Familie ein und jeder stöbert bei lauter Musik in den Fasnetskisten. Das Badezimmer wird zum Schminksaal. Und irgendwann zieht sie los, eine muntere Schar aus Waldfeen, Mönch, Cowboy, Gladiator. Die beste Ehefrau von allen hat uns zu einem 20ger-Jahre-Päärchen geschmückt, offenbar völlig im Trend, wir sind einer großen Schar Gleichgesinnter begegnet. Die Nacht wird wild und schön und doch kann die „Mainhall“ der Disco nicht das Flair der großen alten Halle erreichen, zum Tanzen zu eng, die Musik v.a. in den Pausen der Band für unseren Geschmack zu stumpf und zu sehr Mallorca.

Die Nacht hat ausgereicht, um das Haus in den gewohnten Zustand zu verwandeln. Die verbliebenen Tage bis zur Fasnet bleiben, um das Hanselehäs zu richten. Jedes Jahr darf sein Träger die abgefallenen Göckle wieder annähen, Fleckle erneuern und dieses Jahr als besondere Herausforderung einen neuen Fuchsschwanz annähen, ein wunderbar buschiger Schwanz dazu. Für das Annähen bedarf es der Hilfe der erfinderischen Ehefrau, die hierzu als Technik eine Art Gummiringligatur entwickelt. Sie hilft, wobei sie durchaus mehrfach erwähnt, dass es sinnvoll gewesen wäre, sich früher zu kümmern. Nun ist das Esszimmer zum Nähzimmer geworden, mit Kisten von bunten Fleckle, Glöckle, Nähzeug und allem möglichen Firlefanz, bis die beste Ehefrau von allen dem Treiben denn doch Einhalt gebietet: der Tisch muss freigeräumt werden!

Und schon ist er da, der Schmutzige Dunschdig. Die Schüler werden befreit, im Büro mit Sekt und Krapfen die wenigen verbliebenen Mitarbeiter in die Fasnet geschickt und der erste große Umzug zieht durch die Stadt. Welche Wonne. Noch lange feiern wir auf dem Rathausplatz, die tollste Ehefrau von allen heute als ein wunderschöner Bär mit echter Bärennase. Erschöpft kehren wir nach Hause und legen uns vors Kamin, schlafen selig ein. Aber irgendwann kommt denn doch das Kribbeln, wir holen die Hemdglonker aus den Kisten, weiße Nachthemden, Rüschenhosen, die beste Ehefrau von allen in einem ganz edlen alten Gewand aus Rock und Bluse. Mütze und Haube für den Kopf, ein Halstüchlein für die Farbe, eine Rätsche und auf geht’s zum Hemdglonkerball … Als wir zurückkommen, haben sich Kosmetiktücher über unsere Zahnbürsten gelegt, auch die Zahnbürsten sind heute Hemdglonker.

Freitag-Abend geht es zur Lebenshilfe-Fasnet. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, sind schon lange Teil der städtischen Kultur unserer Stadt. Wir feiern zusammen und freuen uns gemeinsam. Die Hansele mit ihren bunten Häs und Glöckle erfreuen das Herz. Hier lassen die Menschen viel unmittelbarer ihren Gefühlen lauf. Guggenmusiken spielen auf und Elvis singt mit Inbrunst seine Lieder.

Am Fasnets-Samschdig buntes Treiben in der Stadt. Die Menschen feiern ausgelassen nach der Coronazeit. Ein wunderschöner Umzug zieht sich durch die Stadt, so viele Gruppen wie nie, so viele Zuschauer wie nie, wunderbare Stimmung. Die Familie hat die Bären, Löwen und Krokodile ausgepackt. Alle bleiben bis zum Ende des Umzugs, der Nummer 66! Unglaublich wie viele Geister und Hexen in dieser Stadt leben. Die unterschiedlichsten Kleidle und Masken ziehen vorbei, Guggenmusiken, Fanfarenzüge. Die Kinder gegenüber singen stundenlang „Hoorig, Hoorig isch der sell“, ohne Unterbrechung, voller Inbrunst. Irgendwann ziehen auch wir hinter dem Umzug zum Marktplatz, tanzend, „juckend“, trinkend, fröhlich, ausgelassen. Bekannte und Fremde umarmen sich, jeder genießt die Nähe, die Wärme, die Begegnung, das Miteinander. Irgendwann, es ist längst dunkel, ziehen wir nach Hause. Wann sind wir das letzte Mal so ruhig und vertraut durch diese Straßen geschlendert? 

Wir kommen nach Hause: Jetzt los umziehen und in die Disco zur großen Fasnetsnacht? Wir schauen uns an: Wollen wir „schwänzen“? Zum ersten Mal im Leben nicht zur Fasnetsnacht? Ein fast schon frivoles Gefühl! Wir schmeißen unsere Teufelbox an und tanzen durch unsere Bauernküche. Da haben wir Platz und unsere Musik: Matthias Reim, Geyer Sturzflug, Spider Murphy-Gang, Udo Lindenberg, Udo Jürgens, Queen, ACDC, Satisfaction …unsere Musik, unser Gefühl. Verliebt fallen wir irgendwann einfach in unser Bett.

Am Sonntag kommt die Familie zum Brunch und schon geht es auf zum närrischen Jahrmarkt. Die ganze Stadt trifft sich dort. Und der Ehemann hat sich zum Dienst eingetragen beim „Hau den Lukas“. In welch delirischem Zustand ist das wohl passiert? Spielestand, Bücherstand ja, aber Hau den Lukas? Dort steht auch die frühere „Mohrenkopfschleuder“, umgebaut zur Bonbon- (alemannisch: Mocken-)schleuder. Nur noch drei der vier Töpfe funktionieren. Kein Problem, schnell sind wir ein tolles Team. Der Lukas für die Kleinen, der Lukas für die „starken Männer“ und die Mockenschleuder werden Teil von uns. Drei Schläge oder drei Würfe für einen Euro. Niemand käme an uns vorbei, meint die beste Ehefrau von allen. Stimmt aber nicht ganz. Einige wenige haben es mit Verweis auf ernsthafte Beschwerden geschafft! Den Markterlös teilen sich ein Kinderheim für Waisen und die Zunft. Diese Stadt, so heterogen sie ist, hält zusammen.

Die fröhliche Ehefrau holt einen euphorisierten Mann ab. Auch sie ist zutiefst zufrieden. Beim billigen Jakob hat sie wunderbare Sachen erstanden: Zwei Puppen mit echten Keramikgesichtern für ihre Mama, eine tolle Decke aus echter Wolle für unseren Sohn, einen ziemlich großen Messingkessel für unser Zuhause (der wirklich noch fehlte) und einen herrlichen Adonis für die tollste Ehefrau von allen. Ich kaufe noch schnell Lose ehe wir nach Hause ziehen und gewinne eine Spieluhrdose, in die wir unsere gewonnenen Mocken verstauen. Süßer die Glocken nie klingen, spielt sie, und das passt doch zur Fasnetszeit.

Beglückt kommen wir nach Hause und setzen uns in die Sonne. Wir sind noch eingeladen zu einem närrischen Kaffee. Da ist die Spieluhr mit den Mocken doch das perfekte Geschenk. Wir ziehen uns nicht mehr um, wir bleiben ja nur eine Stunde. Wir treffen dort viele gute Freunde, man sieht sich ja so selten. Irgendwann so gegen acht wird das Wohnzimmer zum Tanzboden, dann bleiben wir doch noch ein wenig. Große Boxen, Lichtanlage, tolle Musik. Und wir tanzen und tanzen und tanzen. Tief in der Nacht kommen wir nach Hause, magische Mittelchen zum Abschminken, wundersam verschwinden die Schminkfarben im Waschbecken., Berge von Kostümen über dem Rand der Badewanne, zur Freude und zum Amusement der wunderbaren Ehefrau gehe ich im Hemdglonker-Nachthemd zu Bett.

Rosenmontag, Umzug in der Nachbarstadt. Sommersonne, Wärme. Die liebste Ehefrau von allen möchte heute pausieren, in der Sonne spazieren. Irgendwann kommt ein Bär um die Ecke. Wir fahren in die Nachbarstadt zum Narrentreiben, treffen Freunde, ich verspreche gerne auch früher zurückzufahren. Wir trinken Sekt, essen Langos und köstliche Fasnetsküchle. Der Umzug beginnt. Das Klingen der Hanseleglöckchen. Saublodern fliegen. Glückseligkeit. Wir treiben unseren Schabernack. Jedes Kind am Straßenrand, jede Frau wird verwuschelt, auch die Männer werden veräppelt, v.a. die mit Glatze: „Hoorig, hoorig isch der sell“. Der Fanfarenzug spielt, Zuschauer kreischen, vor Freude, vor schauriger Überraschung, vor Glück, genießen den Tabubruch, Mützen fliegen, Haarbänder öffnen sich. Menschen sind beglückt, weil aus Abstand Nähe wird. Hansele, Hexen, Geister, Raumfahrer, Marketenderinnen, Bären , Störche … entführen in eine andere Welt. Wir feiern zusammen bis zum Abend, meine Bärin mittendrin. Und heute darf auch der Rosenmontagsball auf uns verzichten.

Dienstagmorgen, früh aus dem Bett. Bärentreiben. Die Hansele treiben die Hoorigen Bären von Station zu Station durch das alte Dorf. Ein letztes Mal Glöckchenklingeln. Und immer wieder der Hansele-und-Hoorige Bären-Tanz. Die Hansele mit ihren bunten Flecken, ihren Glöckchen, ihrem großen Schweif auf dem Kopf mit dem Fuchsschwanz am Ende und mit ihren Saublodern stehen für die Fruchtbarkeit, für den Frühling, die Strohgestalten der Hoorigen Bären für den Winter. Am Ende des Tanzes treiben die Hansele den Winter aus. Am Bleichebach gibt es frühmorgens schon Fleischkäsweckle und Kaffee. Bei der zweiten Station sitzen Kinder auffallend brav aufgereiht. Waisen oder vernachlässigte Kinder. Einige singen nach einer Weile mit und schunkeln schüchtern. Zwei afrikanische Kinder lassen mich nicht los. Ich blicke in traurige angstvolle Gesichter. Der Ausdruck „nicht begleitete Flüchtlingskinder“ nimmt vor meinen Augen plötzlich Gestalt an. Warum sind sie alleine hier? Nach einer Weile berühren sie ganz vorsichtig den Fuchsschwanz und drücken die Saublodern. Nachdenklich ziehen wir weiter. Zum Sprachheilkindergarten. Wir tanzen unseren Tanz. Ein Kind bleibt sitzen. Ich frage warum. „Ich habe Diabetes“, erzählt sie und kontrolliert ihre Pumpe. „Der Junge neben mir ist mein Bruder. Ihm geht es manchmal nicht gut, dann ist er ganz traurig. Sie erzählt mit einem Lächeln. Sie geht schon in die Schule und dort macht es ihr viel Spaß. Auch der Junge beginnt zu Lächeln. Welches Glück haben wir?

Glückselige Fasnet, Glückseligkeit. Zu Hause laufe ich vorbei an den Errungenschaften der Fasnet, den Saublodern,  den Schminkkästchen. Ich trage einen Waschkorb voll Hemdglonkerkleidern hinunter. „Ich hab doch schon ganz schön was weggewäscht“, sagt die beste Ehefrau von allen. Im Flur steht noch der große Messingkessel vom Jahrmarkt. Wir besprechen die Vorsätze für die Fastenzeit. Und dann ertönt aus der großen Box: „Ein Sten, der deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt, den schenk ich dir heut Nacht, ein Stern, der deinen Namen trägt, alle Zeiten überlebt, über unsre Lieb wacht.“

Bild von Couleur from Pixabay
2 Kommentare
  • Hansjörg Reichert März 7, 2023 um 10:25 am

    Dankeschön!

  • Da kann isch ja nur kontern: … denn wenn et Trömmelche jeht, dann stonn mer all parat un mer trecke durch die Stadt un jeder hätt gesaat: Kölle Alaaf, Alaaf; Kölle Alaaf! Danke und 💜💋🐗